Urlaub ist Krise

Das Leben, ein Betrug: Frank Castorf hat Tennessee Williams‘ „Süßer Vogel Jugend“ in Wien neu bearbeitet

Als Tennessee Williams 1959 sein Stück „Süßer Vogel Jugend“ herausbrachte, konnte er nicht mit Frank Castorf rechnen. Er hatte sich so bemüht, ein Drama zu schreiben, das Schritt für Schritt lebendige Charaktere erstehen lässt, die allesamt Stellvertreter sind für eine Haltung in der Gesellschaft, in der Widerlinge und Heilige gleichermaßen ihren Platz finden. Er nahm sich Zeit, die Verwicklungen zu gestalten, in die seine Figuren hineingeraten, um sich dann heillos zu verstricken. Unter dem Ansturm der Bedrängnisse sind sie ein bisschen gut, ein bisschen böse, ein bisschen mutig und ziemlich feige, keine glatten Charaktere jedenfalls, weil sie mit einem Innenleben umgehen müssen, das ihnen Energien von der Außenwelt abzieht. Tennessee Williams ist nie der Ankläger, der Menschen und Gesellschaft an den Pranger stellt und Handlungsanweisungen für eine bessere Zukunft mitliefert. Er stellt Täter und Opfer auf die Bühne und wird darüber ganz melancholisch.

Frank Castorf dagegen ist vom Zorn gepackt. Er radikalisiert den William’schen Entwurf derart, dass er dem Stück für die Aufführung bei den Wiener Festwochen einen eigenen Titel unterlegt: „Forever Young“. Der politische Aspekt des Rassenkonflikts wird zurückgenommen, das Trauerspiel des Subjekts ins Aggressive gesteigert. Castorf präsentiert uns Zeitgenossen in einer künstlichen Welt, die der Bühnenbildner Bert Neumann so ausgestaltet, als befänden wir uns in einer Erlebniswelt für gelangweilte Touristen. Die Figuren erleben einen Ausnahmezustand, der nicht Urlaub heißt, sondern sie mitten in die Krise des eigenen Ich stürzt. Sie stehen verloren und allein unter all den anderen Menschen. So viele Freunde, Bekannte, Verwandte, und keiner holt den anderen aus seinem Einsamkeitsloch.

Je hilfloser einer von ihnen im Raum steht, umso mehr wird er zum Objekt der Beobachtung. Ständig ist ein Kameramann unterwegs, um das intime Leiden öffentlich zu machen. Alles, was sich im nicht einsehbaren Bühnenhintergrund abspielt, ist vorne auf einer Leinwand einsehbar. Kein Kampf findet statt, kein Verzweiflungsausbruch geschieht, ohne dass ein Video Zeugnis davon ablegt. Und tauchen welche kurzfristig im Wasserbecken ab, macht die Unterwasserkamera Aufnahmen, dass nichts verloren geht. Frank Castorf, der Existenzialist unter den Regisseuren der Gegenwart, ist auch ein vehementer Zeitkritiker. Er überreizt die Nerven, er überheizt das Klima, er zeigt Menschen, die unter Druck geraten und sich mit heftigen Aggressionsausbrüchen zur Wehr setzen.

Wasser gehört zur Grundausstattung des Stückes. Der Monsun donnert vom Himmel, die Personen stürzen sich ins Becken, tauchen ab, sodass sie Luft nur noch über ein Bambusrohr bekommen, das sie im Mund halten und über die Oberfläche ragen lassen. Tabletten werden hinuntergespült, es hat den Anschein, als wollten sich alle ständig einem Klärungsprozess unterziehen: Sie waschen sich ihr Leben und ihre Geschichte vom Leib, sie, die die Zeit einholt und sie ihrer Jugend verlustig gehen lässt, suchen einen Neuanfang nach der Reinigung.

Das Leben, ein Betrug. So ist es bei Castorf zu sehen, der dem Tennessee-Williams-Stück eine Dosis Verzweiflung zuwiegt, es aber gleichzeitig zu einer grotesken Heiterkeit aufleben lässt. Die Tragik kippt ins Skurrile, und bevor der Schrecken überhand nimmt, holt eine Slapstick-Szene zum Gegenschlag aus.

Was wäre diese Inszenierung ohne so wunderbare Schauspieler wie Kathrin Angerer und Martin Wuttke, das Paar, das als Alexandra Del Largo und Chance Wayne das Gegenprinzip zur herrschenden und überwachten Norm verkörpert. Oder Volker Spengler, der als politischer Finsterling Tom Finley für den Typus des Südstaaten-Rambos steht. Das Prinzip Amerika steht zur Diskussion – ein Prinzip, das die Oberfläche und den schönen Schein für das Ganze nimmt. Castorf lässt ihm keine große Zuneigung zuteil werden.

Große Zuneigung aber wird Castorf in Österreich zuteil. Er ist regelmäßiger Gast bei den Wiener Festwochen, er war präsent bei den Salzburger Festspielen, und immer steht er umjubelt als Sieger da. Warum lieben ihn die Österreicher? Sie brauchen den Theaterdonner, der die so mediokre Politik übertönt. Castorf zieht der Wirklichkeit einen doppelten Boden ein, das leuchtet in Österreich den Menschen ein. Im Oktober wird die Inszenierung in der Volksbühne in Berlin zu sehen sein. ANTON THUSWALDNER