Der ignorante Blick der Genossen

Bislang erfahren die Leser zu wenig über die aufständischen Arbeiter, da sich die meisten Historiker nur auf die Akten der Staatsorgane verlassen

Der Historiker, der heute über DDR-Geschichte schreibt, befindet sich in einer komfortablen Lage. Seine Literatur ist erwünscht. Auch reichlich 13 Jahre nach dem sanften Abgang des SED-Regimes gilt es, den Opfern Genüge zu tun. Denn nicht alle haben jene materielle Entschädigung erfahren, die angesichts manchen Einzelschicksals angemessen erschiene.

Zu beneiden ist der DDR-Forscher auch, weil der Zugang zu den Akten des Regimes weitgehend frei ist. Bis auf das, was die Staatssicherheit in einer letzten Nacht der großen Schredder vernichtete; bis auf das, was das Stasiunterlagengesetz aus welchen Gründen auch immer unter Verschluss stellt, ist alles zu haben: Protokolle, Berichte, Karteien. Ein Himmelreich für den ehrgeizigen Historiker.

Und die Hölle. Die Unterlagen der Birthler-Behörde, die Akten der Parteien und Massenorganisationen sind so zahlreich, dass es eines detektivischen Instinkts bedarf, die aussagekräftigen unter ihnen zu finden. Der DDR-Geschichtsexperte hat Gelegenheit, in einem wahren Aktenberg zu wühlen. Darüber vergisst er oft: Zwar ist es wichtig, das totalitäre SED-Regime zu delegitimieren. Lehrreicher aber wäre es, die DDR verstehbar zu machen.

So sind die politikgeschichtlichen Rahmenbedingungen des 17. Juni hinreichend bekannt: die Normenerhöhung, die streikenden Arbeiter, das Verhalten der obersten SED-Genossen, die Reaktion der sowjetischen Besatzer. Doch wer sind die Arbeiter, die da durch Berlin und viele Provinzstädte marschierten. In den meisten Beschreibungen bleiben sie eine homogene Masse – so zahlreich wie biografielos. Dabei gäbe es genug Anhaltspunkte, sie näher zu beschreiben. 1953 war das Jahr acht nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes. Gewalt als Machtressource gehörte somit zum Erfahrungsschatz der meisten Juni-Demonstranten. Und auch wenn der 17. Juni sicher kein faschistischer Putsch war, so beteiligten sich doch Träger des anderen totalitären Gesellschaftsmodells an dem Aufstand. Die meisten Neuerscheinungen, die jetzt in den Buchläden stehen, streifen diese Fragen nur.

Woran liegt das? Wir Leser erfahren kaum Details über die Arbeiter, weil die SED-Genossen, deren Berichte der Historiker heute liest, nichts über sie wussten. Und weil die DDR-Gerichte, deren überzogene Urteile heute studiert werden, nichts über sie wissen wollten.

Der ignorante Blick der SED-Genossen auf ihr Volk erfährt so eine späte Anerkennung. Wer als Geschichtsschreiber aber den Blick der Genossen übernimmt, setzt sein Projekt dem Verdacht aus, sich des historischen Personals zu bedienen, weil es in sein Weltbild passt. Das haben weder das Projekt noch das historische Personal verdient.

Außerdem ist es langweilig. Mittelalterhistoriker schreiben manchmal ein ganzes Buch über einen Fetzen Papier mit ein paar lateinischen Buchstaben darauf. Die dazu nötige Vorstellungskraft und Kombinationsgabe wünscht man manchem Neuzeithistoriker. Denn nicht jeder laufende Meter neu entdeckten Archivmaterials ist wirklich eine Bereicherung. MATTHIAS BRAUN