Ende der Berührungsangst

Computerspiele sind besser als ihr Ruf. Weder die kulturkritischen Warnungen vor ihren moralischen Gefahren noch die Insiderdebatten der Fanzirkel sind ihrer Bedeutung bisher gerecht geworden

von DIETMAR KAMMERER

Die Berührungsängste sind die altbekannten. Auch das Kino wurde in seinen Anfangsjahren lediglich als Fortsetzung des Jahrmarktvergnügens mit technischen Mitteln angesehen, und nur wenige trauten sich anfangs, vom Film als „siebter Kunst“ zu reden. Zu „low brow“, zu infantil, zu simpel gestrickt, lauten noch die freundlicheren Argumente der Verächter von Computerspielen heute.

Und die Fraktion der Paranoiker findet in der Unzahl der angebotenen Titel verlässlich immer neue Belege dafür, dass Computerspiele mindestens als gewaltverherrlichend, wenn nicht sogar als die eigentlichen Verursacher des jeweils neuesten Schlagzeilenmordes gebrandmarkt werden müssen. Hätte in den 80er-Jahren in der Berichterstattung über den Amoklauf von Erfurt der Hinweis nicht fehlen dürfen, dass der Attentäter Gewaltvideos besessen hat (oder noch besser: von ihnen besessen war), so wird die Staffette heute an die Computerspiele weitergereicht.

Der Hinweis der Apologeten, dass sich in den irrationalen Kern einer Gewalttat beliebiges hineinprojizieren lässt – mit Michael Moore: Warum sollte nicht Bowling schuld sein am Massaker an der Columbine High School? – läuft vor dieser Diskussion notwendig ins Leere. Denn die Sache selbst gerät dabei erst recht aus dem Blick, und schon zeichnet sich im Konjunkturzyklus der Schuldzuweisungen das nächste Medium ab: Jedes Terroristennetz, das etwas auf sich hält, kommuniziert heutzutage mit Handys …

Höchste Zeit also, zu den Fakten zurückzukehren, die eine andere Sprache sprechen. Computerspiele sind (wie die Handys auch) stilprägende Produkte der Gesellschaft insgesamt, weit mehr also als nur Spielzeuge mutmaßlich kulturell verarmter Minderheiten. Der Blick auf die Verkaufszahlen der Spielesoftware, so immens hoch die Umsätze für einzelne Erfolgstitel auch sein mögen, zeigt nur die eine Seite. Die Entwicklung immer schnellerer und leistungsfähigerer Hardware, produziert in hoher Stückzahl zu erschwinglichen Preisen für einen Massenmarkt, wäre ohne die Anforderungen, die moderne Spiele-Engines stellen, nicht denkbar. Für Anwendungen wie Textverarbeitung, Websurfen und Mail-Kommunikation, ist jeder Discounter-PC völlig überzüchtet. Wie ein Rennwagen für den Stadtverkehr. Erst die Berechnung der Millionen von Polygonen, aus denen sich die virtuellen Spielewelten zusammensetzen, macht die Multimediamaschine von Aldi zur sinnvollen Investition.

Seit März online ist die deutschsprachige Website playability.de, die der „kulturwissenschaftlichen Betrachtung von Computer- und Videospielen gewidmet“ ist, allerdings zurzeit noch nicht viel mehr als die Magisterarbeit ihres Betreibers zu bieten hat. In die gleiche Bresche schlagen will auch das seit Anfang Juni am Kiosk erhältliche Magazin Game Face. Sein erklärtes Ziel ist es, „aus Entwicklersicht“ einen kulturwissenschaftlich orientierten Blick auf das Phänomen zu werfen, die „verschiedenen Entwicklungsbemühungen im deutschsprachigen Raum zu dokumentieren“, um in der Debatte „synergetische Effekte herbeizuführen“. Die Startausgabe beschäftigt sich folglich mit nichts weniger als den Aspekten der Ausbildung, der Kunst, der Kultur, der Rechtsprechung, der Software und der Hardware von Computerspielen.

Insider unter sich

Das Konzept ist überaus ehrgeizig. Hätte es den Erfolg, den man ihm wünschen mag, dann zwänge es die Spielefans, über sich selbst Auskunft zu geben. Solange die Gegner immer nur aufs Äußere und aufs Andere zielten: Was macht der Computer aus unseren Kindern?, so lange fiel es der Szene sehr leicht, eben genau das zu tun, was Szenen immer tun: Sie beschäftigte sich mit sich selbst und bürstete die Argumente der Kritiker mit dem Hinweis ab, dass, wer nicht Teil des Spiels sei, eben auch nicht mitreden könne. Im glücklichen Bewusstsein einer zu Unrecht diskriminierten Gruppe lobt man sich gegenseitig und folgt behaglich der Pflege des eigenen Bescheidwissens, in einer vorwiegend spieleimmanenten Betrachtung, die sich überwiegend als Fantum im Abfassen von persönlichen Listen, als Nostalgie im Ansammeln von Reliquien (Computerspielmuseen) und als Euphorie an dem, was neu ist, weil es neu ist, erschöpft.

Der Medienwissenschaftler Claus Pias schreibt in der Einleitung seines Buches „Computer-Spiel-Welten“, dass „die Spieler der ersten Generation inzwischen das diskursproduzierende Alter erreicht haben“. Erwachsen geworden sind sie noch nicht.

Training der Eliten

Computerspiele sind Alltag geworden und verdienen in ihrer Alltäglichkeit eine kritische Reflektion. Über die Fachpresse hinaus wäre das eine Aufgabe nicht zuletzt der Feuilletons seriöser Zeitungen. Denn selbst die Eliten können sich nicht mehr auf ihren Bildungskanon zurückziehen. Auch sie müssen spielen: Manche Anwendungen der Computerspiele haben den Bereich des zweckfreien Zeitvertreibs längst verlassen, zunehmend werden sie als Lehr- und Lernsoftware entdeckt.

Die Städtebausimulation „SimCity“ ist so komplex geworden, dass sie als Übungssoftware für Stadtplaner eingesetzt wird, die damit mögliche Zukunftsszenarien modellieren können. Das amerikanische Militär benutzt seit Jahren den Ego Shooter „Doom“ als Trainingsspiel für US-Marines und hat neuerdings mit der selbst entwickelten Militärsimulation „America's Army“ den Spieltrieb auch als Rekrutierungsinstrument entdeckt. Die Site „Serious Games“ (www.seriousgames.org) führt eine Mailingsliste, die sich mit dem Computerspiel in Hinblick auf „andere als Unterhaltungszwecke“ beschäftigt: „Ausbildung, Training, Politikfelder und Management-Szenarien“ werden genannt.

dietmar.kammerer@web.de