Den Hals im Griff

Ruhe, Routine, Disziplin: „Man muss am Anfang in 20-minütigen Abständen üben, jeden Tag, jahrelang“

von JENNI ZYLKA

Das Schwert ist etwas über einen halben Meter lang, die Klinge dreieinhalb Zentimeter breit und aus versilbertem Stahl. Die kleine Frau mit den schwarzbraunen Locken legt den Kopf weit in den Nacken, setzt die Spitze des Schwertes in ihrem geöffneten Mund an und lässt es, nach ein paar Atemzügen, gerade in sich hineinfallen. Das Schwert bleibt irgendwo in der Leibesmitte stecken, die junge Frau breitet die Arme aus, und wenn man genau hinguckt, kann man sehen, wie der Schaft ganz sanft und regelmäßig zuckt, im Rhythmus der Herzschläge.

Das nenne man „The Drop“, hat Jewels, die Schwertschluckerin, vorher ihren ZuschauerInnen erzählt. Sie hat, von der kleinen verrauchten Bühne eines Berliner Clubs aus, beschrieben, wie die Schneide durch ihre Speiseröhre, an ihren Organen, auch dem Herzen vorbei bis zur Bauchdecke schlittert und dort durch die Muskeln festgehalten wird. Im Publikum ist gelacht worden, viele haben das Gesicht verzogen oder den Kopf geschüttelt. Die spinnt, hat einer gesagt, und dass das mit dem Schwertschlucken ohnehin nur ein Gauklertrick sei.

Aber jener Zweifler hält jetzt die Klappe und gafft. Mit dem Schwert in ihrem Körper bleibt Jewels etwa acht Sekunden stehen, vielleicht weniger, dann zieht sie es mit einer schnellen, geraden Bewegung wieder heraus. Manchmal animiert sie ZuschauerInnen, das Herausziehen zu übernehmen. Dazu beugt sie den Oberkörper ein wenig in Richtung des Helfers oder der Helferin und muss darauf vertrauen, dass er oder sie nicht plötzlich Muffensausen bekommt, wackelt, eine unstete Bewegung macht oder das Schwert zu früh fallen lässt. Denn das wäre Pech, sozusagen. Auch wenn die Klinge nicht rasiermesserscharf ist. Interaktion ist ihr wichtig, denn „wichtiger als die Tricks ist die Art, wie man es tut“, sagt Jewels. Und sie mag es eben gerne, wenn das Publikum mitspielt.

Bei der „Sword Swallowers Association International SSAI“, der Vereinigung aller „bekannten lebenden Schwertschlucker“, sind unter fast 80 Künstlern nur vier Frauen gemeldet. Jewels ist die jüngste von ihnen. Sie ist 24 Jahre alt, geboren wurde sie in St. Petersburg. Als sie 11 Jahre alt war, wanderte ihre Familie nach Schweden aus. Drei Jahre später fand sie ein Buch, ein „Handbook for Selftortures“, geschrieben von einem wissenschaftlich orientierten Schwertschlucker-Interessierten, aber mit Lektionen zum Schwertschlucken, Feuerspucken, Sich-auf-Nagelbetten-Legen. „Und mit 14 kann man etwas schon ganz schön intensiv wollen“, sagt Jewels.

Sie sitzt mit angezogenen Beinen auf dem Sofa ihres Freundes, eines DJs, in einer Berliner Wohnung, hat die Locken hinten zusammengebunden und pustet in den Tee. Jewels, die damals noch Juliette Strouzer hieß, wollte zu jener Zeit das Schwertschlucken unbedingt lernen und begann zu üben. Zuerst mit einer Feder, später mit einer Zahnbürste, „man muss am Anfang in 20-minütigen Abständen üben, jeden Tag, jahrelang“, sagt sie. Bis man den Würgereiz endlich kontrollieren kann, so lange, wie es dauert, einen stahlharten, glatten Gegenstand zu schlucken, oder besser, durch die Kehle gleiten zu lassen, ohne wirklich zu schlucken.

Sie lernt es, und mit 17 geht sie nach London und tritt im Covent Garden auf, vor Laufpublikum. „Ich habe mich in Street Performance verliebt. Die härteste Schule, durch die du gehen kannst“, sagt sie, denn das Publikum sei gnadenlos, es hat schließlich nicht bezahlt; wenn man nicht gefällt, steht man bald allein da, ohne einen Cent im Hut. Viele Männer und wenige Frauen zeigen dort teilweise das, was man jahrhundertelang unter dem Begriff „Side Shows“ zusammenfasste: Shows, die neben der eigentlichen Show eines fahrenden Zirkus stattfanden oder davor, die etwas abseitige Dinge wie Entfesselungskünstler und eben Schwertschlucker präsentierten. Die andere Seite der Artistenwelt mit Clowns und Glitterkostümen. Shows, in denen Menschen sich freiwillig Schmerzen zufügten, sich in Gefahr brachten. In alten Zirkushierarchien waren diese Side Shows Freakshows.

Schwertschlucken ist noch viel älter. 2.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung zeigten indische Fakire ihre angebliche Unverwundbarkeit und Verbundenheit mit den Göttern, indem sie über heiße Kohlen liefen, mit Schlangen tanzten und Schwerter schluckten. Von dort breitete sich die Kunst aus, 410 nach unserer Zeitrechnung wurden Schwertschlucker bei den Germanen erwähnt. In Japan schluckten „Sangaku“-Künstler im ersten Jahrtausend Schwerter, in Derwisch-Orden aßen Mönche Glas und schluckten Schwerter. Und in Europa zeigten mittelalterliche Straßenkünstler ihre Schwerttricks, bis Ende des 19. Jahrhunderts, wo es sogar teilweise verboten wurde. Überlebt hat es nur in Nischen.

Zum Beispiel im Haus Schwarzenberg, dem Ostberliner Refugium für unkommerzielle Künste. Dort hat Jewels vor ein paar Wochen eine ihrer Live-Piercing-Nummern gezeigt: Sie lässt sich Haken durch die Haut des Rückens treiben, über daran befestigte Fäden kann man sie wie eine Marionette bewegen. Eine Abwandlung der Installation „Angel“, bei der an den Haken lange, weiße Stoffbahnen befestigt werden, wie Flügel. Es blutet, tue aber nicht weh, erklärt Jewels. Auch auf dem Nagelbett zu liegen fügt ihr keine Schmerzen zu. Es geht immer um Konzentration und um Körperbeherrschung. Wichtig ist beim Schwertschlucken außerdem, dass das Schwert sauber ist und man die Klinge vorher mit Speichel befeuchtet. Damit es besser rutscht. Körper und Geist in Einklang bringen müsse man, sagt sie, beides gleich stark kontrollieren. Nichts „Unvernünftiges“ tun.

Jewels Performance ist somit das Gegenteil von „Jackass“, der erfolgreichen Fernsehsendung, in der bekloppte Männer sich absichtlich in Unfälle verwickeln und ihre Verletzungen von den feixenden Freunden honorieren lassen. Und sie ist einigermaßen weit entfernt von Sadomasochismus, bei dem das Gefühl des Schmerzes zwar auch eine andere Bedeutung hat als bei NichtsadomasochistInnen, aber trotzdem als Schmerz, wenn auch lustvoller, wahrgenommen wird.

„Mich haben diese Dinge immer interessiert“, erklärt Jewels gelassen und meint Grenzerfahrungen. Sie raucht, immer noch entspannt auf dem Sofa kauernd, noch eine Zigarette. Messer, Gabel, Schere, Licht: alles ist möglich, ihre Internetseite hat sie www.nothingimpossible.net genannt. Unfälle hat sie noch nie erlebt. „Das passiert Amateuren“, sagt sie und klingt dabei nicht herablassend, sondern ernst. Dann erzählt sie die Geschichte von einem Schwertschlucker bei einem Treffen, der sich vor seinem Act nicht richtig konzentrierte, denn „es war sein erster richtiger Auftritt, und 19 Profischwertschlucker guckten zu“. Er wollte es unbedingt vorführen, ließ sich von den anderen im Raum anspornen, und drückte das Schwert in seine Kehle, obwohl er nicht richtig entspannt war. „Es blutete“, sagt Jewels, aber der Mann sei nicht gestorben. Man habe ihn gleich in ein Krankenhaus abtransportiert.

In ihrem speziellen Gewerbe arbeiten kaum Frauen. Frauen tanzen auf dem Seil, schwingen durch den Zirkuszelthimmel, reiten, lassen sich lächelnd vom Zauberer zersägen und vertrauensvoll vom maskierten Cowboy mit Messern bewerfen, spucken vielleicht mal Feuer – das kann Jewels auch, tut es aber nicht gern, weil man sich mit den brennbaren Flüssigkeiten die Magenschleimhäute kaputtmacht. Am Schwertschlucken ist jedoch den meisten „wohl das Risiko zu hoch“, sagt Jewels.

Wenn die zierliche und muskulöse Frau mit den Locken, den dunklen, wachen Augen in ihrem Lederbikini-Outfit samt Stiefeln auf die Bühne kommt, sind viele Männer baff. Dann sabbern sie. Und dann, wenn sie blau und mutig genug sind, werden sie anzüglich. Wie bei einer Show vor ein paar Wochen in einem russischen Club in Berlin: Schwert schlucken, höhö. Schluck doch mal meins!, ruft mehr als einer. Jewels spielt souverän mit diesen Assoziationen, die ihr von testosteronschwangeren Maulhelden aufgedrängt werden. Sie lächelt die lautesten Schreihälse an, lässt sie nach vorne kommen, stellt sie in die Mitte, lenkt die Aufmerksamkeit auf sie: Da sind sie ruhig. Packen ihre groß angekündigten Gemüsemesser wieder ein.

Bei einer Show im Big Eden, Berlins größter Ku’damm-Disko, in der in längst vergessenswerten Zeiten mal irgendein Bär mit irgendwelchen blondierten Hasen gesteppt hat und die jetzt mit neuer Bewirtschaftung versucht, die alte City West wieder nachtattraktiv zu machen, hat Jewels ebenfalls ein Gastspiel gegeben. Auf einer „Ladder of blades“ steigt sie auf ein Podest empor, musikalisch begleitet von einer japanischen Sängerin. Oben angekommen, schluckt sie ein Schwert. Ende. Das Publikum ist zwiegespalten, einerseits greift sich jeder unwillkürlich an die Kehle. Andererseits ist Jewels’ „Ancient Art“ so anachronistisch in einer Welt voll Matrix-Effekten, Zweieinhalb-Stunden-Actionfilmen und Videogeballer, dass es manchen nicht reicht. Das war’s schon?, fragen einige. Ein bisschen Getanze, Gesang, Kostüm und dann nur ein Schwert?

Vielleicht schlucke ich das nächste Mal mehrere, überlegt Jewels. Vielleicht setzt sie sich auch das nächste Mal in den Schneidersitz und fliegt durch den Raum. Zuzutrauen ist es ihr.