Die Generation Teneriffa

Den heutigen Rentnern geht es blendend. Um eine zukunftsfähige Politik haben sie sich nie geschert – es wird Zeit, dass ihnen die Jungen eine Rechnung präsentieren

Wähler und Gewählte jenseits der 55 sind entschlossen, die Party bis zum bitteren Ende zu feiern

Vielleicht hätte ich im letzten November nicht nach Teneriffa reisen sollen. Meine Befürchtung war, dort auf einem Flugzeugträger mit Altenheim zu landen. Aber es war viel schlimmer: Schon im Flieger folgte ich Dialogen wie: „Bleiben Sie über Weihnachten? – Ja, wir fliegen erst Ostern zurück.“ Auf der Insel lachten diese Herrschaften über die Bild-Schlagzeilen zum handwerklich miserablen Start der Regierung Schröder/Fischer II.

Seitdem tue ich mich enorm schwer, die Debatte über die Reform des Rentensystems mit Gelassenheit zu verfolgen. Denn eines ist klar: Keine politische Kraft denkt offenbar derzeit daran, der Rentnergeneration die Rechnung zu präsentieren. Kein Wunder: In allen politischen Parteien mit Ausnahme der Grünen sitzen die Vertreter jener Generation machtvoll in Entscheidungspositionen. Es sind all diejenigen, die seit Beginn der 70er-Jahre politische (Fehl-)Entscheidungen treffen. Bis heute ist es ihnen geglückt, sich in der Wahrnehmung der Jüngeren zur Aufbaugeneration zu stilisieren. Doch die Trümmer waren längst weggeräumt, als die Damen und Herren der Generation Teneriffa das Richtfest für den Aufbau des Wohlfahrtsstaats in eine ewige Party verlängerten.

Ebenso konsensual wie hemmungslos wurden Löhne abseits jeder Produktivitätsentwicklung erhöht. Die öffentliche Hand blähte in bizarrer Missinterpretation der Lehren Keynes’ in jeder konjunkturellen Phase die Neuverschuldung auf. Jugendliche Politiker, die dies mit Blick auf den eigenen späteren Handlungsspielraum hätten monieren können, gab es seinerzeit kaum, oder sie verschafften sich kein Gehör in den ebenfalls von gesetzten Herren dominierten Medien. Die Unternehmen machten – noch unbedroht vom globalen Wettbewerb und diesen auch nicht strategisch antizipierend – satte Gewinne, die nie Anlass zu Kostendiskussionen gaben. Weder die Kosten für Arbeit noch die für Ressourcenverbrauch oder Umweltzerstörung spielten außerhalb der auch nicht innovativen Wirtschaftswissenschaften eine Rolle.

Als in den 80er-Jahren vielen Unternehmern dämmerte, dass sie ihren Personalbestand nicht weiter durchfüttern konnten, da schenkten sie die ältesten der Mitarbeiter dem Staat, und der erfand die Frühverrentung. Derweil bedienten die Regierungen die irrealen Haushalte weiter mit immer üppigeren Schuldenaufnahmen. Schließlich musste die Rentenversicherung Anfang der 90er-Jahre noch die fünf neuen Bundesländer integrieren, innerhalb deren die Alterspyramide mit Blick auf die rasch abstürzende Erwerbsquote auch nicht stimmte.

Die heute 20- bis 40-Jährigen können sich nur wundern: Im Jahre 2003 stehen die handelnden Politiker künstlich staunend vor den unlösbaren Haushalts- und Sozialstaatsfinanzierungsproblemen, die durch die konjunkturelle Lage vernunftfördernd verschärft sind. Aber noch in den Koalitionsverhandlungen 2002 war es für verantwortlich handelnde Politiker der Grünen unmöglich, einen Stopp der automatischen Rentenerhöhung durchzusetzen. Stattdessen werden lieber weiter Beiträge erhöht und wird über eine schleichende, am besten automatische Senkung des Rentenniveaus in Jahrzehnten diskutiert, in der Hoffnung, die davon Betroffenen hielten Rentenpolitik immer noch für ein Seniorenthema.

Ginge es nur um diesen sich nicht schließenden Kreislauf des wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Versagens, könnte man die Generation Teneriffa ja fast noch wohlwollend in den Ruhestand entlassen. Aber die Versagensbilanz ist weit umfangreicher. Diese Generation, die für 50 Pfennig pro Liter Benzin mit ruinösen Abgaswerten durch die Landschaft brauste, sattelt uns heute die Kosten für ihren Ruhestand auf die Mobilität, während ich mir für teures Geld ein 3-Liter-Auto kaufe, früher nicht abgefragte Ingenieursleistungen subventionierend.

Die Generation Teneriffa hat seit den 60er-Jahren Zuwanderer ins Land geholt – noch nicht einmal, um die eigene Rente zu sichern – so vorausdenkend war man ja nicht –, sondern um Arbeiten zu übernehmen, zu denen man selbst keine Lust mehr hatte. Über die Integration dieser Menschen und die damit verbundenen Kosten allein im Bildungswesen hat sie sich nie Gedanken gemacht.

Apropos Bildung: Fremdsprachen in Grundschulen und Aufrichten der schiefen Pisa-Studie – darum müssen sich natürlich auch Politiker einer Generation kümmern, die besser ausgebildet hätte werden können. Aber da steckte die Generation Teneriffa das Geld lieber in die autogerechte Verschandelung unserer Städte, in die Industrialisierung der Landwirtschaft und in die Alimentierung von Ingenieursschrott wie Atomkraft, Riesenstaudämme und bemannte Raumfahrt – kurzum in Dinge, deren Korrektur heute wiederum Kosten verursachen.

Da blitzt er noch einmal auf: derunerschütterliche ökonomische Fortschrittsglaube

Drei Argumente schallen den Jüngeren nun entgegen, ein schlechtes und zwei auch nicht bessere: Das erste: Arbeitet ihr erst einmal! In eurem Alter haben wir nicht an die Rente gedacht. Das stimmt. Leider. Vor allem nicht an ihre Finanzierung. Da denkt man bei den heutigen Abzügen freilich eher dran.

Das zweite: Die Produktivität wird steigen, vor allem die Arbeitsproduktivität. Mit den so erzielbaren höheren Wachstumsraten, so argumentiert etwa Wilfried Herz gut gelaunt in der Zeit, könne man das Bruttoinlandsprodukt bis zum Rentenalter der heute 35-Jährigen „auf mehr als das Dreifache“ steigern. Rentenbeiträge – somit natürlich ein Klacks! Da blitzt er noch einmal auf: der unerschütterliche ökonomische Fortschrittsglaube, mit dem schnelle Brüter in die Landschaft gesetzt und lahme Hühner in Legebatterien gestopft wurden. Kombiniert mit dem Prinzip Hoffnung und der Gewissheit, die Falsifizierung nicht mehr erleben zu müssen.

Drittens wird höflich auf das Erbe verwiesen, das uns heute Arbeitenden einmal winkt. Ja, das Erben. Ein Reservat des vor-sozialstaatlichen und aristokratischen Denkens. Nirgendwo wird die intergenerationelle Solidarität so radikal durchbrochen wie in der Vorstellung, den Kindern derer, denen es gut ging, müsse es wieder gut gehen. Hier ist Zukunftssorge Privatangelegenheit. Mit der maroden Rentenkasse hat das nichts zu tun. Aber alle sollen Danke sagen und Erbschaftsteuer für sozialistisches Teufelszeug halten. Das tun jetzt sogar Sozialdemokraten. Uns heute Arbeitenden bleibt also nur die Gewissheit, im Alter niemals den Lebensstandard erreichen zu können, den wir zugleich unserer Elterngeneration finanzieren.

Die Bitternis der heutigen Beitragszahler wird in den nächsten zwei, drei Jahren nicht nur in Erkenntnis dessen anwachsen, sondern auch, weil sich Wähler und Gewählte jenseits der 55 offenbar darin einig sind, die Party bis zum bitteren Ende feiern zu wollen. Denn während Menschen im Arbeitsprozess unter steigenden Belastungen aller Art ächzen und ohnmächtig dem unausweichlich scheinenden Sozialabbau zuschauen, geschehen die Erhöhungen der laufenden Renten in einem unwirklich automatischen Akt.

Wir brauchen jetzt, eher in wenigen Wochen als in einigen Monaten oder gar Jahren, eine politische Allianz von Kräften, die den Mut hat, einer selbstzufriedenen Generation die laufende Rechnung zu präsentieren: Rentenerhöhungen auch nur im Rahmen des Inflationsausgleichs sind bis auf weiteres auszusetzen, ehe das Rentenniveau der 20er- und 30er-Jahre unseres Jahrhunderts vollends verfrühstückt ist.

In Entscheidungs-positionen sitzt die Generation, die seit den 70ern Fehl-entscheidungen trifft

Der „demografische Faktor“ ist dabei auch ein pseudomathematisches Instrument aus der Trickkiste der Generation Teneriffa: Dass ein arbeitender Mensch immer mehr Rentner finanzieren muss, liegt ja nicht an den heute Erwerbstätigen: Sie konnten sich schließlich nicht selbst in die Welt setzen. Dass die Alterspyramide ihre Statik verlor, liegt logischerweise wieder an den Älteren, die dies nun mit Blick auf ihre Altersversorgung beklagen, während sie offenbar Besseres zu tun hatten zu der Zeit, als sie Kinder zeugen, erziehen und ins Erwerbsleben hätten schicken können.

Noch einmal zurück auf die Insel Teneriffa. Auf der Terrasse des Hotels erzähle ich der Kellnerin, dass mein Opa auch schon einmal auf der Insel war, vor zwanzig Jahren. „Ja damals“, ihr Blick schweift über die betonübergossene Strandpromenade, „war es hier noch schön.“ Die Generation Teneriffa hat nicht nur ihr Ursprungsland verwüstet, sondern auch ihr Zufluchtsland. Das ist Schock und Trost zugleich. Immerhin: Sie kamen nur bis zu den Kanaren.

MARKUS SCHUBERT