Ritt durch die Nacht

Homohochburg. Was heißt das? Stagnation, mentales Ghetto oder Zuhause und Freiraum? Ein Besuch in Berlins Motzstraße

von AXEL KRÄMER

An jenem Augustabend müssen sich die Stammgäste der Homobar „Eldorado“ im Schöneberger Szenequartier rund um die Motzstraße verwundert die Augen gerieben haben. In Berlin tobte ein Wahlkampf, der mit dem Selbstouting von Klaus Wowereit bereits die ungewöhnlichsten Blüten getrieben hatte. Aber dass nun auf einmal der Spitzenkandidat der Landes-CDU persönlich zur Tür hereinschneit – damit hätte nun wirklich niemand gerechnet.

Ausgerechnet hierher. In eine Kneipe, die von schwulen Stadtführern unter der Rubrik „bezahlter Sex“ aufgeführt wird. Frank Steffel setzte sich an den Tresen und suchte das Gespräch mit schwulen Wählern, die er nicht kampflos seinem Rivalen überlassen wollte.

Auch wenn der Auftritt des Christdemokraten im schummerigen Licht der Stricherkneipe nichts weiter war als eine plumpe Schnellschussaktion, so macht er doch etwas deutlich: Das Viertel rund um die Motzstraße strahlt eine Symbolkraft aus. Ein Ort, an dem Flagge zeigen muss, wer in der Hauptstadt künftig was zu sagen haben will.

Wie schnell sich die Zeiten ändern. Nicht lange zuvor hatte das Springerboulevardblatt BZ das Quartier doppelseitig abgebildet und in riesigen Lettern als „Platz der Schande“ beschimpft. Nach Steffels Besuch jedoch war mit keinem Wort mehr zu lesen, dass der Kiez eine „erste Adresse für perverse Männer“ sei. „Ich habe ein unverkrampftes Verhältnis zu den Menschen hier“, ließ sich Steffel vom Morgenpost-Reporter zitieren, „die Szene ist lebendig und zeigt, wie weltoffen Berlin ist.“

Seit vor zehn Jahren ein paar Wirte im Schöneberger Kiez das erste schwullesbische Stadtfest aus der Taufe hoben, hat die Gegend ihren Ruf weg. Ärzte, Apotheken und Pflegedienste haben sich dort auf Homos als Zielgruppe spezialisiert – wie auch Anwälte, Friseursalons, Sexshops und Buchhandlungen.

Die Verkäufer der Eisdiele an der Kalckreuthstraße füllen Eiscreme aus schwuler Hand ab, im Café „Berio“ dürfen sich Künstler mit gleichgeschlechtlicher Kunst profilieren, und Makler werben mit dem „Wohnen im schwulen Kiez“. Es fehlt nur noch eine schwullesbische Filiale der „Berliner Bank“ – eine homosexuelle Kreditkarte bietet die Bank ihren Kunden schon.

Doch was hat das zu bedeuten: die Homohochburg Berlins? Dass Schwule und Lesben auf der Suche nach ihrem persönlichen Eldorado fündig geworden sind und sich eine Ersatzheimat geschaffen haben? Einen Freiraum, der sie auch nach außen hin repräsentiert? Oder ist es ein Ort der Resignation – ein Ghetto, das die schmerzlichen Erinnerungen an das alte Zuhause, wo man sich nie wirklich heimisch gefühlt hat, mildern soll?

Der Wunsch nach einem genius loci – nach der Identifikation mit einem Ort – drang jedenfalls unüberhörbar durch, als vor drei Jahren das Werk des Künstlers Salomé am Ende der Motzstraße enthüllt wurde. Ein „Symbol des Selbstbewusstseins“, so hieß es, ein „Wahrzeichen des schwullesbischen Kiezes“. Seither ragt eine bleistiftförmige Stele in grellen Neonfarben viereinhalb Meter in die Höhe. Eine phallische Variante der Regenbogenflagge.

Warum auch nicht? Gerade jene Schwulen und Lesben, die aus der Provinz zugezogen sind, haben ein Bedürfnis nach Identität. Sie sehnen sich nach Zugehörigkeit, nach Teilhabe an einer Community.

In New York ist man zu Recht stolz auf die Christopher Street, die mitten durch das West Village verläuft. Dort fand Ende der Sechzigerjahre der Aufstand der Tunten gegen Polizeiwillkür statt, der weltweit alljährlich von Bangkok bis Stuttgart in den Christopher-Street-Day-Paraden bejubelt wird. Möglich war das nur, weil das homosexuelle Leben konzentriert in einem überschaubaren Teil Manhattans pulsierte.

Ganz ähnlich der Castro District in San Francisco, dem man vorwirft, ein isoliertes Schwulenghetto zu sein. Von dort aus bahnte sich die Homobewegung erstmals den Weg in ein Parlament: Bereits Ende der Siebzigerjahre kam mit Harvey Milk der erste offen Schwule in einen Stadtrat. „Wenn Schwule und Lesben überall in der Gegend verstreut sind“, verteidigte Milk den District damals, „dann nimmt man sie doch überhaupt nicht ernst.“

Auch in der Motzstraße wurde Homogeschichte geschrieben. Hier öffneten vor rund hundert Jahren die allerersten Bars für Schwule und Lesben. Hier ließ sich Christopher Isherwood für seinen homoerotisch angehauchten Roman „Goodbye to Berlin“ (1939) inspirieren, der dem Musical „Cabaret“ als Vorlage diente.

Aber ist die Motzstraße ein deutsches Pendant zum Castro District? Hört man sich bei den Gewerbetreibenden um, stößt man auf Zurückhaltung. Keineswegs wollen sie in die falsche Ecke gedrängt werden. Stolz, Kiez, Community? Huch. Irgendwie ahnt man, dass all das auch eine Kehrseite haben könnte. Denn Community an sich klingt nach Abschottung und Stagnation, Selbstbeweihräucherung und Szenemonotonie.

Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Vor allem, wenn man einen Blick in Homomedien wirft, die thematisch fast nur um Sex, CSD und Rosenstolz kreisen. Doch ist das Schmoren im eigenen Saft? Kann das als Problem der Motzstraße gelten? Nein, Ghetto ist zunächst immer eine Konstruktion im eigenen Kopf.

Dabei kann es auch mondän, glamourös und weltverbunden sein, das schwullesbische Leben. So gab sich jedenfalls das legendäre „Eldorado“, das als eine der ersten Homobars in die Geschichte einging – lange bevor es im Castro District oder im West Village brodelte. Claire Waldoff und Marlene Dietrich verkehrten in dem Lokal, das nur wenige Häuser von dem heutigen glanzlosen „Eldorado“ entfernt war.

Doch manchmal weht ein Hauch vom alten „Eldorado“ durch die Motzstraße. Wie vor zwei Jahren zur Andy-Warhol-Retrospektive. Die Betreiber der „Hafen“-Kneipe und des Restaurants „Lukiluki“ besorgten sich Elefanten aus einem Zirkus, schmissen sich in Outfits prominenter Stammgäste aus dem Studio 54 und ritten als Liza Minelli, Jackie O. und Andy Warhol durch die Nacht. Es gab niemanden, der sich in jener Nacht im Ghetto nicht wohl gefühlt hätte.

AXEL KRÄMER, 37, verlebte seine Kindheit im Schwäbischen, ehe er über Madrid und Moskau nach Berlin fand, wo er nun als freier Autor lebt. In der Motzstraße lebt er zeitweilig.