Schmerzen unter Kastanien

Kann Heimat örtlich bestimmt werden? Oder meint dieses Wort nicht vor allem die Sehnsucht nach Vertrautheit? Eine Geschichte vom Wunder, die Liebe zu finden und die Heimat nicht mehr zu brauchen

von KARL R. MÜLLER

Jetzt noch über die Rennstraße. Wie lächerlich der Name ist, fällt mir jetzt erst auf: Wer über die Rennstraße will, muss wahrhaftig nicht rennen. Da vorne, wo der Wall beginnt mit seinen hohen, alten Kastanien und dem breiten Fußweg, da war die Tanzschule. Ist tatsächlich immer noch da. Hier auf dem Wall war immer das schönste Licht im Sommer, durchlässiges Dunkel mit flatternden hellen Flecken.

Dort drüben in der Tanzschule trieb der alternde Seniorchef mit ungeheuer femininem Gestus Bauch an Bauch seine rundliche Gattin über das Parkett – ganz ohne Einsatz der Hände! „Sehen Sie, meine Herren, so muss man seine Dame führen können.“ Wie vorgesehen, gab es an dieser Stelle freundliches Gekicher – aber wohl eher, weil ziemlich schwer zu übersehen war, dass der tuckige Herr L. mindestens ebenso sehr Dame war wie seine Frau.

Dort drüben in der Tanzschule war es auch, dass mir schlagartig bewusst wurde: Ein Träumer bist du, nichts wird in Zukunft einfach sein, im Gegenteil. Von dem letzten Mädchen, das meinem Herzen einen Stoß versetzen konnte, hatte ich gerade gnädig, aber auch vollendet gleichgültig einen Tanz bewilligt bekommen. Da walzten wir nun gemeinsam übers Parkett – ihre Rechte in meiner Linken, meine Rechte an ihrer Schulter, ihr Gesicht weit weg von meinem – und ich fragte mich ein wenig trotzig: Sei ehrlich, würdest du nicht viel lieber noch mit dem Jungen dort tanzen, der mit meinem Bruder in eine Klasse ging? Und die Antwort lautete unmissverständlich: ja.

Der eine, gerade erst aufsteigende Liebeskummer klang fast augenblicklich ab und machte alsbald einem anderen, fundamentaleren Platz. Nicht nur dass ich nie mit diesem Jungen durch den Saal wirbeln würde (worauf ich im Zweifel verzichten konnte), die Chance, dass ich ihn jemals auch nur würde berühren können, war außerhalb des statistisch messbaren Bereichs.

Es wurde noch schwieriger. Meine heimliche Flamme nahm mich gar nicht zur Kenntnis – ganz im Gegensatz zu einer anderen Tanzpartnerin, die mich offenbar für so gut wie versprochen hielt. Ich konnte ihr wohl kaum sagen: Merci, aber die dort schnürt mir das Herz zusammen. Schon gar nicht: Und der da erst!

Zum tuckigen Herrn L. in die Tanzstunde ging ich bald nicht mehr. Meine kleine Stadt würde keine Wunder für mich bereithalten. Und es würde nicht daran liegen, dass ich ihr keine Chance dazu gab.

Jahre später, als ich längst nicht mehr hier wohnte, ging ich an einem lauen Sommerabend die alten Wege noch einmal. Das Licht hüpfte wieder zwischen den Kastanien hin und her, und wie vor langer Zeit einprogrammiert stellte sich wieder dieses eigentümliche melancholische Ziehen ein und das schauderhafte Bewusstsein: wie unglücklich du hier warst!

Dabei hatte ich diese Stadt als Kind geradezu geliebt. Ihre drei Hallenkirchen, die – wie ich später in einem Reiseführer las – für eine so kleine Stadt ohne Beispiel sein sollen, ihre beiden dunkelgrauen Flüsschen, den Wall, die verwinkelte Fußgängerzone. Nie hätte ich tauschen mögen. Nicht, dass ich viele Vergleichsmäßstäbe gehabt hätte. Doch keine andere Stadt hätte in mir ein so vorbehaltloses Gefühl vermitteln können, am rechten Ort zu sein.

Kommt einem das Heimatgefühl zwangsläufig abhanden, wenn man realisiert, in einem gravierenden, einem scheußlichen und zugleich fundamental wichtigen Punkt nicht dazuzugehören? Geht man als Homo automatisch der Heimat verlustig und wird eine Art Alien, ein Fremder in einer fremden Welt?

Vielleicht ist die erkaltende Liebe zu dem Ort, an dem man aufwächst, aber auch eine ganz naturwüchsige Phase. Eine Entwicklungsstufe, die genauso dazugehört wie der heilige Schrecken, wenn man als Kind plötzlich jede Kreatur hegen und schützen möchte und einem einfällt, dass man zuvor reuelos Ameisen zertrampelt und Schnaken die Beine ausgerupft hat. Ist womöglich die Pubertät – egal wer der ersehnte Partner sein mag – einfach die Zeit, da einem schmerzhaft bewusst wird, dass nichts, auch kein noch so vertrauter Ort je Ersatz sein kann für eine Liebe?

Die Liebe zu meiner kleinen Stadt jedenfalls war gründlich verbraucht, als ich die Tanzschule verließ. Die folgende Phase der Desillusionierung war zwar ebenso idealistisch überhöht wie die vorausgegangene der Schwärmerei – nur war sie schmerzhafter. Sie dauerte, bis ich an dem toten Punkt angelangt war, an dem sich die Bremer Stadtmusikanten sagten: „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall“, und das Elternhaus und die Stadt verließ.

Tatsächlich Besseres, nämlich einen Neustart bei nahezu null, fand ich in der nahen Universitätsstadt. Zwar dauerte es mehr als ein Jahr, bis ich mir deren kleine schwule Infrastruktur erobert hatte, trotzdem war es, als tue sich ein neuer Kosmos auf, ein Paralleluniversum. Vorwärts immer, rückwärts nimmer! Eine neue, vollgültige Heimat?

Ein Ersatz? Das war es vielleicht im Überschwang des Coming-outs, in dem Moment, da die Illusion noch einmal Nahrung bekommt, es könne einen Durchbruch zu einem großen Ganzen geben. Bis wieder eine Normalität sich einstellt und man sich darüber klar wird, dass es immer Gruppen gibt und Einzelne, Gesellige und Abstinente, dass man mal dazugehört und mal eben nicht. Man kann Moden folgen, kurze Zeit der berühmte Teil einer Jugend- oder auch der Homobewegung sein, aber Gruppen und Freunde sind keine Orte.

Eine Stadt so geliebt wie die erste habe ich nicht mehr, nicht die Stadt meines Coming-outs, nicht Berlin, nicht Hamburg. Wenn ich mit dem ICE über die Kennedybrücke fahre, links die Binnenalster, vor mir der Hamburger Dammtorbahnhof, fühle ich mich wohl, spüre eine Vorfreude auf die Stadt, aber das ist kein Vergleich zu dem Ziehen in der Magengegend, das ich noch jahrelang empfand, wenn ich die Autobahn Richtung Süden fuhr und die Landschaft begann, erst hügelig und dann waldig zu werden. Zu Hause! Fast automatisch stellte sich der irritierend romantische Gedanke ein: Wenn du jetzt verunglückst, kommst du wenigstens in deiner Heimat unter die Erde. Ein reichlich makabres Zuhause, wenn ein Ort einem unter der Erde mehr Wohlbehagen eingibt als darüber.

Zum Glück geschehen in der Welt entgegen aller gefühlten statistischen Unwahrscheinlichkeit doch immer mal wieder Wunder, auf eine unmögliche Liebe folgt eine mögliche und desto erfreulichere.

Und dann ist Heimat bei dem, der dem Herzen einen Stoß versetzt. Und alte, hohe Kastanien sind nur noch schöne Bäume im Sonnenlicht – nicht mehr, nicht weniger.

KARL R. MÜLLER, 41, lebt als freier Autor in Hamburg