Eine Vermarktung ohne Beispiel

Der fünfte Band von J. K. Rowlings Saga ist seit Samstag im Handel: „Harry Potter and the Order of the Phoenix“

Die Fans standen schon lange vor Mitternacht an. Doch verkauft wurde Joanne K. Rowlings neuer „Harry Potter“-Band erst um eine Minute nach Mitternacht britischer Zeit in Buchläden, Supermärkten und Tankstellen. 8,5 Millionen Exemplare von „Harry Potter and the Order of the Phoenix“ hat der Verlag Bloomsbury drucken lassen. So hoch war noch nie eine Startauflage. Allein bei Amazon lagen 350.000 Vorbestellungen vor. In Deutschland, wo die Übersetzung im November erscheint, waren es immerhin 70.000 für die englische Ausgabe. Bloomsburys Aktien sind seit dem ersten Potter-Band, von dem 1996 zunächst nur 1.000 Stück aufgelegt wurden, um das Zehnfache gestiegen.

Der Verlag hat für die fünfte Potter-Folge zwei Umschläge drucken lassen: einen für Kinder und einen für Erwachsene, denen es vielleicht peinlich wäre, mit einem Kinderbuch gesehen zu werden. Das Buch hat 768 Seiten und wiegt ein Kilo. Die britische Post musste am vergangenen Wochenende eine ganze Flotte zusätzlicher Lieferwagen einsetzen. Da das Buch nicht durch die Briefschlitze passt, riet die Post allen, die es beim Versand bestellt hatten, am Samstag bis zur Zustellung zu Hause zu bleiben, da sie ansonsten lediglich eine Benachrichtigung vorfinden würden.

Doch nicht alle Bücher haben ihr Ziel erreicht. In Nordengland wurde vorige Woche ein Lastwagen mit 7.630 Exemplaren im Wert von knapp 200.000 Euro geklaut. Die Polizei gab daraufhin eine Warnung heraus: Wer vor Samstag mit dem neuen „Harry Potter“ erwischt werde, müsse mit einer Anzeige rechnen. Ein Gabelstaplerfahrer in der Druckerei, wo das Buch gedruckt wurde, hatte ein paar Seiten gestohlen und in seiner Frühstücksdose versteckt. Als er sie dem Boulevardblatt Sun anbot, wurde er gefasst und zu 180 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt.

Doch in den USA und in Kanada sind versehentlich schon vorige Woche einige Exemplare verkauft worden. Die New Yorker Zeitung Daily News soll nun 100 Millionen Dollar Schadensersatz zahlen, weil sie am Mittwoch ein paar Seiten aus dem Buch nachdruckte. Rowling hat den Inhalt wie ein Staatsgeheimnis gehütet. „Man könnte zynisch sein und sagen, es war ein Marketingtrick“, sagte sie, „aber ich wollte nicht, dass die Kinder wissen, was auf sie zukommt, denn das ist Teil der Spannung.“

Ja, man könnte zynisch sein. Die Vermarktung von Harry „Schotter“ ist in der Branche bisher ohne Beispiel. Selbst die Disney-Figuren, Puh der Bär, und die Star-Wars-Helden mussten im Vergleich zu Potter nur für einen Bruchteil der Produkte herhalten. Der Umsatz des Potter-Imperiums liegt bei 3 Milliarden Pfund (rund 4,5 Milliarden Euro) jährlich, Rowling soll ein höheres Einkommen als die britische Queen haben. Das ist eine erstaunliche Karriere, wenn man bedenkt, dass sie das erste „Harry Potter“-Manuskript mehrmals abtippen musste, bevor sie es an die Verlage schickte, weil sie als allein erziehende Mutter kein Geld für Fotokopien hatte.

Sie hat diese Zeit, die gerade mal sieben Jahre zurückliegt, nicht vergessen, sie ist dem britischen Rat für Alleinerziehende beigetreten und unterstützt ihn finanziell. Aber sie gehört auch dem „Verband für britische Maße und Gewichte“ an, einer zutiefst konservativen Organisation, die für Unze und Gallone kämpft und das metrische System als „politische Philosophie“ abtut. Ein anderes prominentes Mitglied ist der Rechtsaußen Norris McWhirter, der heute noch der Apartheid nachtrauert.

Harry Potter ist genauso konservativ wie Rowling. Richard Adams warf der Autorin im Guardian vor, dass die Hauptfiguren in ihren Büchern Männer seien, die Minderheiten keine kulturellen Identitäten hätten und komische Namen trügen. Harry Potter sei ein „konservativer, paternalistischer Tory“. Über Harrys Onkel und Tante, bei denen er die Sommer verbringt, schreibt Adams: „Die Dursleys lesen die Daily Mail, treten für die Todesstrafe ein und überhäufen ihren verwöhnten Sohn Dudley mit Videospielen und Junk Food. Sie träumen von einem größeren Dienstwagen und einem Urlaub in Spanien. Die Ironie für Rowling besteht darin, dass die Dursleys auch ihre ergebensten Leser sind.“

Aber eben nicht nur die Dursleys und ihre Tory-Parteigenossen. Der Verlag schätzt, dass ein Drittel aller erwachsenen Briten „Harry Potter and the Order of the Phoenix“ lesen wird. Von so vielen Wählern können die Tories nur träumen. RALF SOTSCHECK