Arbeit am Schmerz

Jean-Pierre und Luc Dardenne erforschen mit ihrem Film „Der Sohn“, wie sich menschliche Tragödie reparieren lässt

Kantine, Büro, Werkstatt. Treppe hoch, Treppe runter. Gang links durch, Glastür, Gang rechts durch, Stahltür. Ein paar Schritte vor, ein paar zurück. Lange bleibt unklar, was dem Tischler Olivier (Olivier Gourmet), der eine Werkstatt für delinquente Jugendliche in Lüttich leitet, wie ein Fluch im Nacken hockt und ihn manisch in Bewegung hält. Am Anfang ist es vor allem die Kamera. Sie kauert auf seiner Schulter und fotografiert nahe, enge Bilder.

Jeder Überblick ist in den Wirrungen des Getriebenen verloren gegangen. Die Kamera zeichnet jeden Wackler dieses nervösen, massigen Körpers auf. Erst später, wenn Olivier sich zu Hause eine Dose Essen warm macht und bei Rückengymnastik vorläufig zur Ruhe kommt, hat man Zeit, sich seine Augen anzuschauen. Sie liegen hinter dicken Brillengläsern, die bis ins Panische vergrößern. Es ist der Name des neuen Lehrlings, der Olivier aufpeitscht. Der Name des damals elfjährigen Jungen, der Oliviers kleinen Sohn getötet hat.

In Cannes wurde der Hauptdarsteller mit der Goldenen Palme geehrt. Auch sonst ist „der Sohn“ von den belgischen Regisseuren Jean-Pierre und Luc Dardenne ein Meisterwerk aus kleinen Bewegungen, in denen die übergroßen Gefühle der Tragödie nisten. Es ist ein im altmodischen und besten Sinne zugleich „physisches“ Kino, das die Dardenne-Brüder bereits in Filmen wie „La Promesse“ (1996) und „Rosetta“ (1999) vorstellten.

In „Der Sohn“ geht es nicht nur vordergründig um das Tischlern. Ausmessen, Feilen, Hämmern, Abtasten, Anpassen, Weglegen, Herholen – das alles ergibt ein unaufhörliches Hantieren, in dem sich die Arbeit der Erinnerung, des Schocks, der Hilflosigkeit manifestiert. Der Film erzählt von körperlicher Arbeit ebenso wie vom Leben als ewige Verrichtung, von den mechanistischen Versuchen, die eigene Existenz samt Schmerz und Sehnsucht zu sortieren. Und vor allem von einer menschlichen Wahrheit, bei deren Verfertigung man zusehen kann.

Schlichte Anschauung wird bei den Dardennes zur komplex unterfütterten Narration. Ein Werkzeugkasten wird getischlert. Die knappen Anleitungen des Meisters dazu. Die Anstrengung, die Ungeschicklichkeit, schließlich der Stolz des Lehrlings über sein erstes Werk. Kleinigkeiten, die ebenso beiläufig wie selbstverständlich den fundamentalen Wechsel von Misstrauen und Unsicherheit zu Verantwortung und Respekt beschreiben. Sie schlagen eine Brücke von dem, was geschah, zu dem, was ist. Von einer ungeheuerlichen Tat zu einem blassen Bubi und seinem kleinen, verkorksten Leben. Wenn Olivier ihm unter die Arme greifen muss, damit der schmale Junge bei einer Übung nicht mit einem Dachbalken von der Leiter stürzt, dann spielt sich in dieser kleinen Szene ein antikes Drama ab, in dem Wut und Racheoptionen mit der beinah väterlichen Verantwortung eines Ausbilders ringen.

Das Authentisch-Dokumentarische der Handkamera ist dabei alles andere als bloße Stilübung. Es ist eine Art Credo für die Ausschnitthaftigkeit des Wirklichen. Es gibt keine Erklärungen, kein Verstehen, kein Entschuldigen, keine Rache, keine Erlösung. Es gibt am Ende nur diese Einstellung von einem Mann und einem Jungen, die einen Anhänger mit Holzbalken beladen und sich beide mit jedem Handgriff in die stille Routine ihres Lebens zurücktasten. BIRGIT GLOMBITZA

„Der Sohn“. Regie: Jean-Pierre undLuc Dardenne. Mit Olivier Gourmet, Morgan Marinne. Belgien/Frankreich 2002, 103 Min.