Der Trojanische Krieg in 75 Minuten

Ödipus in Brüssel, Achilles in Antwerpen und „Die Perser“ in Aachen und Bielefeld: Eine Reihe neuer Opern widmet sich den großen Mythen der Antike. Die Geschichte soll helfen, die kriegerische Gegenwart zu erhellen und diese wiederum den Mythos. Ein Überblick über die aktuellen Premieren

von FRIEDER REININGHAUS

Was soll uns heute noch eine „Ägyptische Helena“ sagen? Warum sollte sich ein größeres Publikum noch für Mythen interessieren, die aus der Zeit des Trojanischen Kriegs stammen?

Schon als Hugo von Hofmannsthal in den Zwanzigerjahren die Legende vom keuschem Dornröschenschlaf der spartanischen Königin Helena und der Rachsucht ihres gehörnten Ehemanns Menelaos als Hintergrund für seine grundsätzliche Sicht der Probleme zwischen Männern und Frauen wählte, wirkte das ziemlich anachronistisch. Doch als Stefan Soltesz, Intendant und Generalmusikdirektor am Aalto-Musiktheater in Essen, unlängst „Die Ägyptische Helena“ mit ihrem bunt schillernden Tonsatz von Richard Strauss reaktivierte, gerieten die eineinhalbtausend Premierengäste in Verzückung. Und sie goutierten auch umstandslos das Changieren zwischen modernem Ehedrama und der Welt der antiken Halbgötter.

Das neue Musiktheater schwärmt derzeit in unterschiedlichste Richtungen aus. Doch der Rückgriff frisch komponierter Opern auf die Mythen der Antike lässt sich als eine der signifikantesten Strömungen erkennen. In Lyon etwa präsentierte Michèle Reverdy noch einmal eine „Medée“. Diese groß dimensionierte Oper stützt sich auf eine Adaption von Christa Wolfs Medea-Buch – überwiegend sanftmütig, sangbar und textverständlich. Hervorgehoben wurde, durchaus zeitgemäß, der Konflikt zwischen der „Barbarin“ Medea und den Europäern. Regisseur Raoul Ruiz illustriert die antike Tragödie mit ruhigen Filmbildern vom heutigen Griechenland: Hafen, Straßen und das schäbige Ufer bei Korinth.

Ähnlich aufbereitet wurde in Brüssel „Oedipe sur la route“. Der Psychoanalytiker Henry Bauchau rekonstruierte den Weg des von eigener Hand geblendeten Königs Ödipus von Theben nach Kolonos. Der Komponist Pierre Bartholomée, seit vierzig Jahren in der Neuen Musik in Belgien aktiv, ordnete dem „Ehrengast des Unglücks“ dazu ein dichtes Orchester-Klangband zu sowie sangbare Vokalpartien, mit denen sich der grandiose José van Dam und Valentina Valente profilierten, als Reverenz an eine ins Abseits geratene Moderne der Sechzigerjahre.

Einen frischeren und aktuelleren Zugriff auf eine der großen mythologischen Figuren wagte dagegen De Vlaamse Opera in Antwerpen mit „Achilleus“. Der vom Jazz kommende flämische Komponist Wim Hendrickx reduzierte den Trojanischen Krieg auf 75 Musikminuten und konzentrierte sich ganz auf den Haupthelden Achill: Er zeigte, warum der antike Superheld nicht mehr kämpfen will, aber dem Freund Patroklos seine Superwaffen leiht; der Gefährte fällt und wird gerächt. Das Blutvergießen nimmt seinen Lauf und hinterlässt vor allem Verlierer. Henderickx sorgte für eine effektive, eingängige und einschwörende Musik, während Jacob Schokking mit elaboriertem Videoeinsatz eine subtile Anti-Kriegs-Inszenierung gelang: Die uralte Geschichte erhellt die Gegenwart und diese wiederum den Mythos.

Die Schlacht bei Marathon im Jahr 490 v. Chr. stoppte fürs Erste den Vormarsch der persischen Hegemonialmacht nach Westen. Die größte Flotte der damaligen Welt wurde bei der Insel Salamis versenkt. Beiläufig bescherte dieses Massaker der Menschheit das erste erhalten gebliebene Drama: Der Autor Aischylos referierte die Geschehnisse aus der Perspektive der Verlierer und warnte die Sieger, seine attischen Landsleute, vor Hybris.

Aus diesem ältesten Drama kondensierte Klaus Lang aus Graz, Jahrgang 1971, als Organist und Komponist ausgebildet, nun seinen Text, wofür er sich eigens die Grundlagen des Altgriechischen aneignete. Die oft stockende, mitunter verstockt wirkende Musik beschwört die Schrecken des Kriegs und nutzt den Texthintergrund für große orchestralisch-chorische Gesten. Wie aus tiefem Dunkel glimmt der Ton; mitunter vermeint man einen Ruf aus der Ferne zu vernehmen oder ein Stöhnen ziemlich nah. Die aktuelle Relevanz des Aischylos-Partikel unterstreicht die statische Bebilderung des Aachener Intendanten und Regisseurs Paul Esterhazy, die wie in einen Setzkasten gepackt wirkt.

Eine Woche nach der Premiere in Aachen inszenierte auch Frederic Rzweskis die „Perser“ in Bielefeld. Ausgehend vom selben Text sorgte Andrej Worons Realisierung mit ihren vielen Zeichen der politischen Bekundung dafür, dass die Botschaft unmittelbarer genommen wird: Gewehrfeuer und brutale Schüsse hinterm Blechtor weisen den akustischen Weg. Dann hängt der Himmel voller Flieger: Der Reichsrat zu Susa gafft dem Entschwinden einer Armada von papiernen Jagdbombern nach, während leise der Kalk rieselt oder der Sand, der die Zeit bemisst: Die vielen Krieger kommen nicht zurück. Wiebke Frost, als „Chorführerin“ eine moderne Medienschlange, moderiert die Stimmung in der Hauptstadt; Combo und Batterie, in zwei Etagen rechts und links von der Bühne postiert, sekundieren.

Für seine Inszenierung nahm Frederic Rzewski Anleihe bei der Form des Radio-Lehrstücks von Brecht und Weill aus den späten 20er-Jahren und schaltete wilde freie Schlagzeug-Improvisation zwischen die Sprechszenen und Sprechgesangs-Partien. Manches verweist so auf Hanns Eislers Hollywood-Lieder oder auf das, was Josef A. Riedl in den 70er-Jahren veranstaltete. Überhaupt erinnern die scharf profilierten Tableaus an gewisse Ansätze politischen Theaters nach 1968. Das entwickelt heute wieder einen eigentümlichen Charme, zumal durch die surrealistischen Brechungen Worons.

Anders als bei der hochgepäppelten RuhrTriennale zeigt sich in Aachen und Bielefeld das neue Musiktheater damit ganz vorn. Am guten, alten Stadttheater hat es seine Hausaufgaben gemacht.