Kritik als Selbstzweck

Christopher Hitchens gibt gerne Widerworte. Mal will er Henry Kissinger vor den Internationalen Strafgerichtshof bringen, mal verteidigt er Bushs Irakkrieg – und das alles macht er auch in seinem neuen Buch so brillant wie witzig

Bücher hinterlassen einen Nachgeschmack. Sie können bitter schmecken, bisweilen auch süßlich. Manche allerdings schmecken wie ein Hamburger von McDonald’s. Sie hinterlassen nichts außer einem Sättigungsgefühl. Genauso geht es einem nach der Lektüre von „Widerwort“ (im Original: „Letters for a young contrarian“) des Journalisten Christopher Hitchens.

Hitchens ist in Deutschland vor allem bekannt geworden, weil er gefordert hat, Henry Kissinger auf die Anklagebank des Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu setzen. Seine Begründung: Der ehemalige US-Außenminister war in den Sturz Salvador Allendes in Chile 1973 und in den Einmarsch der USA in Kambodscha 1970 verwickelt.

In „Widerwort“ geht es ihm nun um die Stellung des kritischen Intellektuellen in einer Zeit des Konformismus und der Kommerzialisierung. Diesem Trend setzt er eine einfache Forderung entgegen: Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Dieses berühmte Diktum Immanuel Kants prägt das gesamte Buch. In diesem Rahmen gibt es nette Anekdoten und schöne Aperçus. Wir treffen unzählige Prominente wie den heutigen südafrikanischen Präsidenten Mbeki auf einer Party in London oder den ehemaligen tschechischen Präsidenten Havel auf der Prager Burg.

Zugleich versucht sich Hitchens immer wieder in intellektuellen Stilübungen, so etwa über Rilkes phallische Gedichte Hitchens: „Ficken rechtfertigt sich selbst“ – oder Glossen über die Rolle des kritischen Intellektuellen in der Geschichte. Wir finden dort Emile Zola und die Dreyfuss-Affäre, George Orwells Kampf gegen den Stalinismus oder die Selbstbehauptung der osteuropäischen Dissidenten gegen den Totalitarismus. Das Ganze wird verbunden mit einem kurzen Lehrgang in lebendiger Demokratie. Wir erfahren vom Wesenskern der Demokratie (Konflikt statt Konsens) und dass Konflikte für die Betroffenen häufig unangenehme Folgen haben – die Mächtigen drohen mit Repressalien. Hitchens warnt vor Eiferern und dem schleichenden Gift der Korrumpierung.

Kurz gesagt: Wer gegen den Strom schwimmt, sollte sich über die Folgen nicht wundern. Den häufig zu hörenden Vorwurf, man sei elitär, braucht man dabei nicht zu fürchten. Hitchens hat das Selbstbewusstsein des Individualisten. Er spricht nur für sich selbst. Auf die Frage „Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?“, hat er die passende Antwort: „Wer will das wissen?“.

Vieles in diesem Buch ist bedenkenswert, manches brillant und witzig formuliert. Es ist auch eine Wohltat, klare Positionen zu finden. Hitchens hat Meinungen. Ob zu Bosnien oder Lady Diana, zu Bill Clinton oder zur Debatte über die allgemeine Wehrpflicht. Er geht keiner Kontroverse aus dem Weg, und political correctness ist ihm zuwider. Letzteres hat er erst in jüngster Zeit wieder bewiesen. Er unterstützte die Irakpolitik von George W. Bush und hat aus dem Grund seine Kolumnistentätigkeit für die linke amerikanische Zeitschrift Nation eingestellt.

Interessant ist seine Begründung. Hitchens ist historischer Materialist. Er sieht George W. Bush in einer ähnlichen Rolle wie weiland Marx die Briten in Indien. Die USA setzen einen Modernisierungsprozess in Gang, der zu mehr Demokratie im Mittleren Osten führen könnte. Die Beseitigung eines totalitären Regimes sei darüber hinaus per se ein Fortschritt – jenseits der Frage, was an seine Stelle tritt. Die Argumentation der Kriegsgegner in den USA kritisierte er als realpolitisch. Dieses ist auch der Kern seiner Feindschaft mit Henry Kissinger.

Kissinger betrachtet die Welt aus der Perspektive der Macht und des Interesses. Das ist Hitchens ein Gräuel. Wer als Gegengift etwas über eine wertgebundene Politik erfahren will, wird entsprechend bei Hitchens bedient. Er hat dabei nicht den Hang deutscher Leitartikler und Kolumnisten, ihre eigene Rolle mit der der Politik zu verwechseln. Hitchens zerbricht sich nicht den Kopf der Politiker und simuliert nicht am Schreibtisch Henry Kissinger, George W. Bush oder Gerhard Schröder.

Kritik ist bei ihm Selbstzweck. Es ist das Recht des Intellektuellen als Staatsbürger. Entsprechend schonungslos seine Polemik gegen alle Versuche, dieses Recht auszuhebeln. „Widerwort“ ist zutiefst von Hitchens’ amerikanischen Erfahrungen geprägt. Es ist zugleich ein Dokument über das kulturelle und gesellschaftspolitische Klima in den USA. Dort müssen Intellektuelle offensichtlich die Gesellschaft vor der kulturellen Hegemonie der Religion und der Kirchen verteidigen. Hitchens polemisiert gegen die heiligen Texte der Buchreligionen. Diese seien keineswegs das Wort Gottes, sondern von durchschnittlichen Menschen verfasst. Eine Meinung, die in Alteuropa selbst auf Ökumenischen Kirchentagen bestenfalls ein müdes Achselzucken auslöste. Aber in den USA ist diese Position keineswegs selbstverständlich. Sie ist sogar, so ist zu befürchten, mutig.

Trotz allem bleibt das Hamburger-Problem: Hitchens konnte sich offensichtlich nicht entscheiden, ob er eine Biografie oder eine Gegenwartsdiagnose schreiben wollte. „Widerwort“ wirkt wie eine Kompendium aus dem Zettelkasten oder seiner Textdateien auf dem Computer, getarnt als Briefe an einen Studenten. Das Ganze hält er mit seinen biografisch geprägten Reflexionen über die moralischen Anforderungen an einen kritischen Intellektuelle zusammen. Diese sind durchaus überzeugend.

Doch wer hält sich heute schon für konformistisch oder unkritisch? Selbst ein Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks dürfte sich zum Querdenker ernennen, wenn er es denn wollte. Ihn für einen substanzlosen Phrasendrescher zu halten, der in seinen Kommentaren lediglich kritischen Journalismus simuliert, hielte er zwar für eine Beleidigung.

Doch selbst dieser Mann würde unter Umständen Hitchens’ Buch positiv rezensieren – wenn er es überhaupt lesen wollte. Die bisweilen präsidiale Attitüde mit gut gemeinten Allgemeinplätzen kann nicht der Anspruch eines Christopher Hitchens sein. Gleichwohl ist „Widerwort“ eine empfehlenswerte Lektüre, da sich Hitchens oft genug an einen alten Grundsatz hält: Die Wahrheit ist immer konkret.

FRANK LÜBBERDING

Christopher Hitchens: „Widerwort. Eine Verteidigung der kritischen Vernunft“, aus dem Englischen von Joachim Kalka, 200 Seiten, DVA, München 2003, 19,90 €