Auf dem Boden der Fish-‘n‘-Chips-Tüte

Spülstein und Zeche, Sozialwohnung und müde Füße: Warum geraten die Familiendramen des britischen Films niemals in die Nähe von Kitsch oder Betroffenheit? Weil sie das Gesellschaftliche einbinden und dabei die richtigen Schauspieler einsetzen

Ein kritisch-politisches Kino kann heute nicht von Hoffnung künden

von ANKE LEWEKE

Ein Paar müder Füße, das sich auf dem Wohnzimmertisch ausruht und von schwerer Maloche in der Fabrik erzählt. Penetrant dudelt der Fernseher vor sich hin, doch gegen die beklemmende Stille im Raum kommt er nicht an. Schon seit Ewigkeiten scheinen Cynthia (Brenda Blethyn) und ihre Tochter aneinander vorbeizuschweigen. Immer wieder findet Mike Leigh in seinem 1996 entstandenem Film „Secrets & Lies“ zu solchen Familienstillleben, die an Endlosschleifen erinnern. Die Gefühle wurden von einer kollektiven Lähmung aufgesogen.

In „Nil by Mouth“ (1997), dem Regiedebüt des Schauspielers Gary Oldman, herrscht ein ähnlich desolates Aneinandervorbei. Auch hier hängt eine Familie lethargisch vor dem Fernseher. Mit einem schier unerschöpflichen Bierdepot ertränkt man die Arbeitslosigkeit. Doch der Frust lässt sich nicht so leicht ersäufen. Irgendwann wird er ausgekotzt, in Streitereien um nichts, in wahllosen Prügeleien. Meistens ist es die junge Valerie (Cathy Burke), die die Schläge ihres bulligen Manns einstecken muss. Weil bei Gary Oldman keine filmische Montage die Wunden heilt, werden wir fast während des gesamten Films mit Valeries aufgequollenem, blau geschlagenem Kopf konfrontiert. Es ist ein furchtbarer Anblick, und er setzt sich wie ein Widerhaken im Gedächtnis fest. Ein geschundenes Gesicht als Inbegriff einer allgemeinen Dysfunktionalität der Familie, die das britische Kino seit Jahren konsequent in seinen Mittelpunkt rückt.

Warum nur geraten britische Familiendramen nie in die Nähe von Kitsch oder Betroffenheit? Wie gelingt es diesen Filmen seit Jahrzehnten, von proletarischen Lebensläufen, verbogenen Biografien, vom Privatpolitischen ganz natürlich, sozusagen aus den Fish-'n’-Chips-Tüten heraus zu erzählen? Wie schafft es dieses Kino, engagiert, geradezu marxistisch, aber nie verbohrt ideologisch zu wirken?

Es mag daran liegen, dass das englische Kino Klassenbewusstsein und Wirklichkeitsnähe gewissermaßen mit der Muttermilch aufgesogen hat. Am Beginn dieser Kinematografie stand eine Haltung. Schon die britischen Dokumentarfilmer der Dreißigerjahre gingen mit ihren Kameras zielgerichtet in die Bergwerke und Zechen und beobachteten, wie sich die Arbeit im Privaten niederschlägt. Im Spielfilm führte dieser Blickwinkel in den Fünfzigerjahren sogar zu einer Art früher Dogma-Bewegung, die nicht nur den Weg ins proletarische Milieu vorschrieb, sondern auch den Dreh an Originalschauplätzen, die Arbeit mit Laiendarstellern sowie den Verzicht auf filmisches Übergepäck. Wohl nur in England konnte ein Genre wie der Kitchen-Sink-Film entstehen, der Spülsteinfilm, der sich vermeintlich banalen Lebenssituationen stellte, seine Kameras in den Wohnungen der so genannten kleinen Leute installierte und durch die bloße Wahrnehmung des Zusammenlebens zum gesellschaftlichen Kommentar wurde.

Von den privaten Beziehungen zu den politischen Verhältnissen geht eine Bewegung, die das englische Kino bis heute in aller Selbstverständlichkeit vollzieht. Von desolater Arbeitsmarktpolitik und gesellschaftlichen Trümmerlandschaften muss im Free Cinema und dem daraus hervorgegangenen New British Cinema gar nicht mehr die Rede sein. Das Gesellschaftliche ist immer schon da, hat sich eingenistet in den tristen Wohnzimmerensembles und ihren elektrischen Kaminfeuern, in den gefängnisartigen Sozialbaublöcken voller abgewetzter Sofagarnituren. Es sind Filme, die uns Gilles Deleuzes Forderung nach einem modernen politischen Kino, das die Familie zum Austragungsort gesellschaftlicher Widersprüche und Probleme macht, mit einem natürlichen Gestus vor Augen führen.

Und der Ton hat sich verschärft. Schweigen und Schreien, Stillstand und Schläge: In neueren britischen Kinoproduktionen scheint sich die Familie nur noch an den extremen Polen situieren zu können. Nach jahrzehntelanger Massenarbeitslosigkeit, Zechenschließungen, dem Absterben ganzer Industrieregionen und den neoliberalen Umbauten der Thatcher-Regierung steht das Familienleben mit dem Rücken zur Wand. Und diese Verzweiflung ist keine cineastische Behauptung. Als konkreter Hintergrund ist sie den Schauspielern präsent, spiegelt sich in ihren großartigen Gesichtern, Fressen und Visagen. Von Brenda Blethyn über Robert Carlyle bis Peter Mullan, von Timothy Spall über Ewan McGregor bis zur kürzlich verstorbenen Katrin Cartlidge: Im britischen Kino ist das Soziale synonym mit der Präsenz des Darstellers. Hier wird nicht im klassischen Sinne verkörpert. Denn der Schauspieler ist von vornherein ein Teil der Klasse, des Milieus, der Sofaecken und Pubs, in denen er sich bewegt.

Man muss nur an Peter Mullan denken, wie er in Ken Loachs Alkoholikerdrama „My Name is Joe“ (1998) mit zusammengezogenen Schultern am Küchentisch hockt und seiner neuen Freundin geradeheraus und zugleich mit unglaublicher Überwindung von seinen Tagen mit der Flasche erzählt. Oder an Brenda Blethyn, die in Nick Hurrans „Girls’ Night“ (1998) mit großer Präzision das Schicksal einer Hausfrau und Fabrikarbeiterin verinnerlicht, die ein Leben lang nur für die anderen geschuftet hat. Entsprechend still und leise dämmert sie als krebskranke Mutter aus dem Leben, während ihre Familie gebannt von einer Quizshow vor der Glotze hängt.

Verzweiflung wird nicht behauptet; sie liegt in den Gesichtern der Darsteller

All diese Helden sind Stehaufmännchen, die mit letzter Energie gegen die finanziellen, sozialen und psychischen Katastrophen ihres Daseins ankämpfen. Bis nichts mehr geht. Neu ist, dass diese Verzweiflung nun bis ins Mark der Familie führt, gewissermaßen am Eingemachten rührt. In Tim Roth’ Regiedebüt „The War Zone“ (1999) wird die Underdog-Familie zum Schlachtfeld, dessen Frontverläufe sich in inzestuösen Grauzonen verlieren. Und Dom Rotheroes Adoleszenzgeschichte „My Brother Tom“ (2001) macht den Missbrauch, die damit einhergehenden Verletzungen und Traumata zur Grundlage einer Liebesgeschichte zwischen zwei introvertierten Teenagern. Selbst Ken Loach, der seinen Familien in früheren Filmen gerne den utopischen Streifen am Horizont ließ, scheint mit seinen jüngsten Geschichten im Extremen angelangt. In „The Navigators“ (2001) führen die Privatisierung der britischen Eisenbahn und die so genannte Flexibilisierung der Arbeitszeit zum völligen Zusammenbruch familiärer Strukturen. Ging es im Anfang der Neunzigerjahre entstandenen Film „Raining Stones“ noch um einen Mann, der alles dafür gibt, damit seine Tochter ein Kommunionskleidchen bekommt, bleibt der Vater in „The Navigators“ nun wie ausgeblendet. Über seinen Verbleib wird kein Wort verloren.

Für „Sweet Sixteen“ (2002) haben sich Loach und sein Autor Paul Laverty in triste schottische Arbeitersiedlungen begeben, um den endgültigen Verfall des Systems Familie zu konstatieren (siehe Rezension auf Seite 17). Es geht um einen Halbwüchsigen, der zu früh ins Erwachsensein gezwungen wird. Als Kleinkrimineller lädt sich der Laiendarsteller Martin Tompston die ganze Last einer zerrütteten Familie auf die schmächtigen Schultern. Seiner drogensüchtigen Mutter im Gefängnis will er ein neues Zuhause schaffen. Ein Wohnwagen am See wird zum Projekt einer Familienidylle, die umso ferner zu rücken scheint, je verzweifelter sich der Junge darum bemüht. Ken Loach zeigt eine Industriestadt in der Nähe von Glasgow, in der kein Platz mehr für Kindheit, geschweige denn für Normalität ist. Mütter mit Babys auf dem Arm kaufen sich die tägliche Dröhnung, die ersten Jobs führen geradewegs ins Dealermilieu, und obskure Mafiosi übernehmen nicht weniger obskure Vaterrollen.

So niederschmetternd sich die Verhältnisse darstellen, so konsequent ist das Bewusstsein für die Wirklichkeit, das diese Filme entwickeln. Wahrscheinlich kann es nicht länger die Aufgabe eines kritisch-politischen Kinos sein, sich an Hoffnung und Veränderung zu orientieren. Im Gegenteil, für Gilles Deleuze sind gerade die Abwesenheit der Utopie und die Unmöglichkeit einer Bewegung dasjenige, was die heutige Wirklichkeit bestimmt. „Es hat den Anschein“, schreibt er, „als lebe das moderne politische Kino nicht mehr wie das klassische von der Möglichkeit von Evolution und Revolution, sondern von den Unmöglichkeiten, oder wie bei Kafka vom Unerträglichen.“

Kino des Unerträglichen: Die chronisch erkrankte Familie des Spätkapitalismus spiegelt gesellschaftliche Trümmerlandschaften wider. So stellt sich das Soziale in den neueren britischen Filmen als Asoziales dar, als Nebeneinander monadenhafter Existenzen, als Zusammenleben ohne Zusammenhalt. Mit der kleinsten sozialen Einheit scheint auch die letzte Trutzburg gefallen, in der so etwas wie eine selbstverständliche Solidarität existierte. Vielleicht muss man tatsächlich nach England schauen, will man die Folgen einer neoliberalen Politik erahnen, durch die ganze Gesellschaftsschichten durchs soziale Raster fallen. Nie sah es düsterer aus in den Tiefen der Fish-’n’-Chips-Tüten.