„Letzte Zuckung der US-Macht“

Interview STEFAN REINECKE
und CHRISTIAN SEMLER

taz: Monsieur Todd, Sie glauben, dass die USA, die gemeinhin seit 1990 als einzige globale Macht gelten, auf dem absteigenden Ast sind. Das ist originell, aber ist es auch wahr?

Emmanuel Todd: Ja, zumindest spricht viel dafür. Ich bin kein Ideologe, ich bin Historiker. Mich interessieren Fakten, keine Theorien. Tatsache ist: Die USA konsumieren mehr, als sie produzieren. Es gibt ein gigantisches, wachsendes Außenhandelsdefizit der USA von 500 Milliarden Dollar jährlich. Die USA sind abhängig von den Exportnationen, vor allem von Deutschland und Japan. Das ist das Neue. Paris und Berlin haben Nein zum Irakkrieg gesagt. Colin Powell hat mit finsterem Gesicht Frankreich „ernste Konsequenzen“ angedroht – und was ist passiert? Nichts. Es war eine leere Drohung. Die USA haben nicht mehr die Macht, Europa zu bestrafen. Seit dem Ende des Kalten Krieg braucht die Welt die USA nicht mehr, aber die USA brauchen die Welt.

Sie haben 1976 den kommenden Untergang der Sowjetunion analysiert, jetzt beschreiben Sie Gründe für den Niedergang der USA als globale Macht. Gibt es Parallelen?

In den 70ern haben viele die militärische Hyperaktivität der UdSSR von Afrika bis Afghanistan als Zeichen unerschütterlicher Macht verstanden. Das war ein Fehler. Genauso falsch ist es heute, die Kriege der USA für einen Ausdruck der Stärke zu halten. Sie sind das Gegenteil – der Versuch, etwas zu beweisen, was verschwindet, nämlich die globale Macht der USA.

Sie unterschätzen den Unterschied zwischen der Sowjetunion, in der jede Reform zum Untergang führen musste, und dem hochflexiblen Kapitalismus US-amerikanischer Prägung.

Nein. Natürlich wird das US-System nicht implodieren. Ich rede auch nicht von der inneren Reformfähigkeit, sondern von internationalen Beziehungen. Aber es gibt in der Tat eine verborgene, absurde Ähnlichkeit. Der Neoliberalismus ist im Kern eine Ideologie, im Unterschied zum traditionellen sozialstaatlichen Kapitalismus. Seit den 80ern herrscht in den USA ein inbrünstiger Glaube an den Markt, insbesondere an die Finanzmärkte. Das erinnert an die ideologisch überregulierte Planwirtschaft – nur eben andersherum. Und finden Sie nicht, dass die großen Skandale in den USA, wie etwa der Fall Enron, irgendwie an den GOS-Plan erinnern, an die russische Fakewirtschaft, die auf geschönten Zahlen basierte? Die USA-Eliten sind ebenso unfähig wie jene in der UdSSR, die Fakten so zu sehen, wie sie sind.

Überschätzen Sie die Krise der USA nicht?

Nein, im Gegenteil. Als ich „Weltmacht USA – ein Nachruf“ schrieb, gab es das Nein von Frankreich, Deutschland und Russland zum Irakkrieg noch nicht. Das ist, wie ich finde, ein gewichtiges Ereignis. Es zeigt, dass die atlantische Achse nicht mehr die einzige strategische Orientierung ist. Die innere Krise der US-Gesellschaft scheint mir noch größer geworden zu sein. Ich bin lange davon ausgegangen, dass der Neoliberalismus für Deutschland mit seiner Tradition der Sozialpartnerschaft, für Frankreich, in dem die Idee der Gleichheit eine enorme Rolle spielt, falsch ist – aber dass angloamerikanische Länder damit durchaus leben können. Das scheint mir angesichts der Krise, in der die USA stecken, angesichts der enormen sozialen Zersplitterung, höchst fraglich. In den USA herrscht ein Maß an Gewalt und sozialer Desintegration, das etwas Selbstzerstörerisches hat.

Monsieur Todd, Sie übersehen, wie sehr die Welt von der US-Kultur geprägt ist, von den Werten, dem Individualismus, von Bildern und Lebensstilen. Das ist die wahre Macht der USA, mehr als die Ökonomie, viel mehr als die Waffen.

Ja – und nein. Die Macht der USA fußte früher auf dem Militär, der Kultur und der Ökonomie, heute nur noch auf dem Militär und der Kultur. Denn die neoliberale Ideologie, hat, beschleunigt durch den Zerfall der New Economy, die Kraft der US-Wirtschaft geschwächt. Aber auch die Machtressource der politischen und kulturellen Legitimität schwindet. Sie nimmt ab, seit die USA den Kalten Krieg gewonnen haben, und sie schwindet wegen ihrer aggressiven, erratischen Außenpolitik, wegen Kriegen wie im Irak. Man muss die kulturelle Macht genau anschauen. Da ist zuerst die Sprache – wir reden ja Englisch …

und trinken dabei Coca-Cola …

… ich nicht (lacht). Aber mir scheint, dass die USA dazu neigen, wegen der Allgegenwart der Sprache ihre Macht zu überschätzen. Man sollte bedenken, dass alle Verträge und Erklärungen, mit denen der Niedergang der französischen Macht besiegelt wurde, in Französisch abgefasst waren.

Sie sagen: Früher war die Macht der USA notwendig, jetzt ist sie überflüssig. Ist das nicht zu simpel? Die Macht der USA war doch oft beides – notwendig und überflüssig. Wir unterhalten uns in Berlin – da versteht es sich von selbst, welcher Segen die Präsenz der USA war. Zur gleichen Zeit haben die USA in Lateinamerika und Vietnam damals ihre Macht missbraucht.

Haben sie das? Ich fand die Rolle der USA in den 50ern, 60er, auch in den 70ern richtig und notwendig.

Da haben Sie einiges vergessen …

Nein. Die Politik der USA gegenüber Deutschland und Japan nach 1945 war sehr klug. Die Eindämmung des Kommunismus war richtig – und erfolgreich.

Auch in Vietnam?

Der Vietnamkrieg war ein Fehler. Er basierte auf falschen Analysen der Machtverhältnisse in Vietnam und der irrigen Annahme, dass, wenn Vietnam kippt, in Kürze auch Thailand kommunistisch würde. Doch das grundsätzliche Konzept war richtig. Das Drama der USA besteht heute darin, dass sie keinen militärischen Gegner mehr haben. Der islamistische Terrorismus ist furchtbar, aber, anders als Bush meint, kein Gegner, den man militärisch eindämmen kann. Das Militärische verliert heute, entgegen dem Anschein, an Bedeutung. Was zählt, ist die Wirtschaft.

Und der Irakkrieg? Aus der Perspektive der USA war dies eine notwendige, rationale Intervention. Sie sagen, der Irakkrieg sei eine Show gewesen, eine Demonstration eigner Größe. Das ist eine ziemliche schwache Erklärung.

(lacht) Aha, und was ist die starke Erklärung? George W. Bush, der Mann aus dem Ölgeschäft, der die Ölreserven beherrschen will?

Ja. Öl ist ein starker Grund für einen Krieg – auch wenn wir in diesem Fall nicht daran glauben.

Immerhin. Die Ölthese ist oberflächlich. Mag sein, dass sich meine Erklärung für Sie zu psychologisch oder zu schwach anhört. Aber sie geht tiefer als die Ölthese. Sie basiert auf der Lektüre der Schriften wichtiger außenpolitischer Köpfe der USA, von Brezinski, Paul Kennedy, Fukuyama u. a. Im US-Establishment herrscht das klare Bewusstsein, dass die USA nicht das Zentrum der Welt sind. Die USA liegen eher abseits. Viele in den USA sind geradezu verzweifelt, weil die wirtschaftliche Macht der EU wächst.

Und deshalb wurde Bagdad bombardiert? Steile These.

Doch, es ist ein militärischer Aktionismus aus Schwäche. Ein Krieg ohne Deutschland und Frankreich, mit Alliierten, die nichts bezahlen wollen, mit einer kriselnden Wirtschaft, dem Handelsdefizit und einem schwachen Dollar. Hören Sie einfach mal US-amerikanischen Politikern zu – den immer wiederkehrenden Beschwörungsformeln, wie stark, mächtig und unbesiegbar die USA sind und dass sie die Fähigkeit haben, überall auf der Welt zu intervenieren. Ich möchte Ihr Vertrauen in die Psychoanalyse nicht überstrapazieren, aber wenn ein Mann sagt: Ich hasse Frauen, ich hasse Frauen, ich hasse Frauen, dann liegt doch die Vermutung nahe, dass er auf Frauen fixiert ist.

Und was ist die Therapie?

Die Therapie ist es, zu sagen: Ihr seid nicht so stark, wie ihr tut. Seit einfach mal ein bisschen leiser als sonst.

Kein guter Rat für einen Psychoanalytiker.

Das stimmt (lacht).

Monsieur Todd, stellen wir uns einmal vor, dass Ihre These vom Niedergang der USA richtig ist …

… gute Idee …

In zehn Jahren sind die USA also eine Macht unter anderen, neben der EU, Russland, China und Japan. Wäre das eine friedlichere Welt? Bliebe nicht eine gefährliche Leerstelle? Wer hätte dann zumindest die Möglichkeit, etwa den Nahostkonflikt zu befrieden?

Die Frage verwundert mich. Ich sage ja, dass es dieses globale Gleichgewicht längst schon gibt. Die EU ist eine enorme ökonomische Kraft, Russland ist einigermaßen stabil, und es gibt Zeichen, dass sich Asien in eine ähnliche Richtung entwickelt. Ich bestreite also die Prämisse Ihrer Frage. Zweitens: Wo spielen die USA denn derzeit faktisch die Rolle einer Ordnungsmacht, die Frieden herstellt? In Nahost gewiss nicht. Ich kann nicht erkennen, dass die Intervention im Irak mehr Ordnung in der Region schafft – im Gegenteil. Die Angst, die die USA verbreiten, scheint mir die letzte Zuckung der globalen US-Macht zu sein, die sich weigert, anzuerkennen, dass die Welt längst auf einem anderen Weg ist.

Toni Negri und Michael Hardt haben in „Empire“ darzulegen versucht, dass die Strukturen so komplex geworden sind, dass sie für eine Zentrale unbeherrschbar geworden sind. Hat die Ökonomie einen Grad an Internationalisierung und Vernetzung erreicht, der die Macht ortlos werden lässt? Ist das Verschwinden der globalen Macht der USA auch ein paradoxes Resultat der Globalisierung?

Nein, ich glaube nicht an solche Theorien. Ich glaube nicht, dass der globale Kapitalismus alle bisherigen Strukturen auflöst. Ich meine, dass die Nationen – oder Nationenverbände wie die EU – noch immer als Akteure existieren. In der These, dass die Nationen leere, unbedeutende Hüllen geworden sind, treffen sich interessanterweise manche Linksradikale mit den Neoliberalen. Das ist falsch. Nationen haben sehr wohl Macht. Kollektive können ihr Schicksal selbst bestimmen.