Der Auftrag

Unternehmer sind keine Exoten und schon aus diesem Grund auch für Literatur interessant: Der Schriftsteller Burkhard Spinnen erzählt in seinem Buch „Der schwarze Grat“ die Lebensgeschichte des Laupheimer Metall-Unternehmers Walter Lindenmaier

Ausgerechnet in der Krise geht es den Laupheimern so gut wie nie zuvor

von ANSGAR WARNER

„Laupheim? Hoffentlich habe ich richtig gehört, denn sehen kann man vor lauter Nebel nichts.“ Burkhard Spinnens neueste Veröffentlichung beginnt wie eine ganz normale Erzählung. Ein Mann kommt Mitte der Neunzigerjahre an einem süddeutschen Provinzbahnhof an. Aus einer geparkten Limousine entsteigt sogleich ein zweiter Mann und winkt, der Unternehmer Walter Lindenmaier. Er ist die Hauptfigur der Geschichte. Der Erzähler lässt sich zum Ort der Handlung chauffieren, einer Metall verarbeitenden Fabrik. Dort tischt Lindenmaier dem Erzähler seine Lebensgeschichte auf.

Pfingstsamstag 2003. Ich sitze in einem bequemen Plüschfauteuil eines Hotels unweit vom Kurfürstendamm. An den Wänden hängen Ölbilder mit maritimen Motiven. Es ist angenehm kühl und niemand zu sehen außer einigen livrierten Pagen, die geschäftig zwischen Bar und Rezeption hin und her laufen. Dann ertönt ein leiser Glockenschlag, die Türen des Fahrstuhls im Foyer öffnen sich, ein Mann kommt auf mich zu und begrüßt mich: Burkhard Spinnen. Der Schriftsteller stellt gleich klar: „Sie brauchen mich eigentlich über nichts zu befragen, was schon in ‚Der schwarze Grat‘ steht. Alles ist tatsächlich so gewesen!“ Damit ist meine erste Frage in der Tat schon beantwortet, obwohl ich ohnehin kaum Zweifel hatte.

Im Falle der Lebensgeschichte Walter Lindenmaiers handelt es sich um Facts und nicht um Fiction. „Der schwarze Grat“ ist die Biografie eines real existierenden mittelständischen Entrepreneurs: „Sie können ja im Internet unter www.lindenmaier.de nachschauen!“ Entstanden ist das Projekt durch biografischen Zufall – Spinnen und Lindenmaier haben sich auf einer Hochzeitsfeier kennen gelernt. Als der joviale Mittelständler das Verfassen seiner Biografie als eine Art Jointventure vorschlägt, ist der nüchterne Literat zunächst ziemlich skeptisch. Bei den Verlagen häufen sich schließlich Manuskripte von Leuten, die irrigerweise glauben, ihr Leben habe aus lauter unerhörten Begebenheiten bestanden. Wie zur Bekräftigung schreibt Spinnen jetzt mit der Hand einen Halbkreis durch die leere Hotellobby: „Wenn Sie so wollen, leiden wir doch eigentlich alle an flagranter Ereignislosigkeit.“

Lindenmaier hingegen war von Anfang an der Ansicht, bei ihm sei alles anders: „Was mir passiert ist, das ist nicht vielen passiert.“ Spinnen nimmt das Risiko in Kauf. Kurz entschlossen taucht er in ein vollkommen fremdes Leben. Relativ schnell weiß Spinnen, dass er die Sache machen wird: „Der break-even point war erreicht“, kommentiert der Biograf betont betriebswirtschaftlich in die kalte Luft der leeren Lobby hinein. Um die Sache von vornherein professionell anzugehen, hat Spinnen die Gespräche mit Lindenmaier auf Tonband aufgezeichnet. Nichts soll verloren gehen. Doch gerade diese Genauigkeit bereitet Kopfzerbrechen. Wo ist der rote Faden, „um die Unmenge versprengter Einzelheiten, die ein Leben ausmacht, zusammenzuhalten?“ Wie komplex die Firmengeschichte ist, lässt sich bereits am Aufbau des Werksgeländes ablesen: Um eine alte Wassermühle herum sind „nach und nach die vielen verschiedenen Hallen und Fertigungsstraßen gewachsen – manchmal etwas chaotisch, Improvisationen sind weiterhin an der Tagesordnung“.

Spinnen setzt das Darstellungsproblem produktiv um. Er entwickelt zwei Erzählstränge – die eigentliche Biografie wird eingerahmt von dem, was die Literaturwissenschaftler Metabiografie getauft haben. So ähnlich wie ein Porträtmaler, der sich beim Porträtieren mit Pinsel, Palette und Staffelei mit auf das Bild bringt, setzt sich der Biograf dem Blick des Lesers aus. Mehr als sechs Jahre Arbeit an der Biografie Lindenmaiers werden in der Rahmenhandlung etappenweise miterzählt, und damit wird auch ein Ausschnitt aus dem Leben Burkhard Spinnens sichtbar. Chronologisch fortschreitend kann man als Work in Progress die Firmengeschichte von der Gründung der Lindenmaier Präzision durch den Großvater in den Dreißigerjahren bis in die Gegenwart verfolgen. Anfang der Siebzigerjahre übernimmt Lindenmaier junior, gerade mal Anfang zwanzig, in Laupheim das Ruder. Das Unternehmen kommt in dieser Zeit gewaltig ins Schlingern: steigender Konkurrenzdruck, chronischer Kapitalmangel, Managementfehler, Betrügereien, aber auch spektakuläre Betriebsunfälle.

Die Fülle der teilweise selbst verschuldeten Krisen und Katastrophen ist ebenso verblüffend wie die Menge der letztlich erfolgreichen Versuche, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Selbst einen Beinahe-Flugzeugabsturz überlebt der Laupheimer Unternehmer: Die Tragflächen der firmeneigenen Propellermaschine hatten während eines Unwetters schon die Baumwipfel des Schwarzen Grates im Allgäu gestreift, die Chancen standen hundert zu eins gegen ihn.

„Was mir passiert ist, das ist nicht vielen passiert“: Das eigentlich Unerhörte an seiner Geschichte ist tatsächlich, dass es Lindenmaier und dessen Unternehmen auch im 21. Jahrhundert immer noch gibt. Trotz der wachsenden Nähe zur Hauptfigur ist Spinnen bemüht, Distanz zu wahren und nur das Wesentliche zu berichten: „Nein, ich darf mich nicht mit ‚Strukturen‘ beschäftigen und erst recht nicht mit psychologischen Mustern oder dergleichen.“ Also lediglich: „Daten, Fakten, Zusammenhänge. Absatz, Umsatz, Gewinn und Verlust.“

Für Spinnen leiden „doch eigentlich alle an flagranter Ereignislosigkeit“

Das klingt zunächst einmal so ambitioniert wie die Quadratur des Kreises. Und erklärt den merkwürdigen, streckenweise bis zur Unerträglichkeit naiv scheinenden Stil der biografischen Passagen, die kommentarlos den Erzählgestus Lindenmaiers nachahmen. Doch durch die Kontrastierung mit den essayistischen, selbstreflexiven Passagen im Stile des Making-of wird die auf Grundlage der Tonbandaufzeichnungen fingierte Form objektiver Darstellung tatsächlich plausibel. Der authentische Klang erinnert stark an die aus O-Ton-Montagen hergestellten Familienchroniken Walter Kempowskis, die ähnlich kommentarlos dem Leser präsentiert werden.

Man muss sich immer wieder klar machen: Auch wenn es einem nicht passt, was man da erzählt bekommt – so war es eben. Ist die künstlich hergestellte Wirklichkeitsnähe dann tatsächlich auch der Reiz, der von dieser Geschichte ausgeht? Mit der üblichen Managerprosa hat „Der schwarze Grat“ auf jeden Fall nichts zu tun, betont Spinnen: „Nehmen Sie so eine Erfolgsstory wie die des Topmanagers Jack Welsh, die hat doch nur Materialwert: Reiner Erfolg ist gar nicht so schön!“ Dann entwickelt der Metabiograf unter dem Bild eines stolzen Dreimasters in schwerer See ein Kurzplädoyer für all das, was zwischen den Extremen liegt: „Das Mittlere ist das wirklich Interessante, zum Beispiel die Erkenntnis, dass auch Unternehmer eben keine Exoten sind.“ Wenn auch die Methoden teilweise schon exotisch sein mögen. Mittlerweile hat gar die japanische Kaizen-Methode Einzug in Laupheim gehalten.

Die Arbeit in kleinen Produktionsteams ist angesagt, und eine neu gegründete Filiale in der Slowakei wurde nach ISO-Norm zertifiziert. Man hat sich zu einem begehrten Zulieferer für die Automobilindustrie gemausert. Aber selbst das scheint schon wieder dem paradoxen Grundmuster der Geschichte zu folgen: Ausgerechnet in der aktuellen Krise geht es den Laupheimern so gut wie nie zuvor.

Wie viel Wirklichkeit ist dem Leser eigentlich zuzumuten, frage ich mich dann, nachdem Burkard Spinnen mit einem Glockenschlag hinter den Türen des Aufzugs im Hotelfoyer verschwunden ist. Wo sind die Geschichten aus der neuen Arbeitswelt, wo die Romane über die atmende Fabrik, wo bleibt die Poetik des Total Quality Managements? Ich muss an Wilhelm Raabes Roman „Pfisters Mühle“ aus dem späten 19. Jahrhundert denken. Darin schildert der Romancier das Aufschreiben der Lebensgeschichte des alten Müllers. Während der Erzähler noch am Pult mit seiner Feder auf dem Papier kratzt, rückt vor dem Fenster schon die Abrisskolonne an, um den Standort der Mühle für einen Fabrikneubau zu planieren. Solch eine präzise Schilderung des industriellen Wandels war den zeitgenössischen Verlegern ein Dorn im Auge, so viel Realität wollten sie ihren Lesern nicht zumuten – fast wäre der Roman nicht publiziert worden. An solchen Mechanismen hat sich offenbar noch nicht so viel geändert, denke ich, als ich am Wittenbergplatz die U-Bahn einfährt: „Einsteigen bitte!“ Spinnens ungewöhnliche Biografie des Laupheimer Unternehmers Lindenmaier zeigt ja im Grunde genommen, dass uns mit dem fortgesetzten literarischen Ausblenden der ökonomischen Sphäre ein entscheidender Teil der Lebenswirklichkeit entgangen ist: „Zurückbleiben!“

Burkhard Spinnen: „Der schwarze Grat. Die Geschichte des Unternehmers Walter Lindenmaier aus Laupheim“. Schöffling & Co., Frankfurt/M. 2003, 19,90 €