Das Zittern der Generäle

Der Irakkrieg hat die Kurdenfrage verschärft. Warum handeln die Machthaber in Ankara nicht kurdenfreundlicher? Über Angst und Politik in der Türkei

von MEHMET MIHRI ÖZDOGAN

Als im Februar 1999 der Kurdenführer Abdullah Öcalan verhaftet wurde, kommentierte Bundesaußenminister Joschka Fischer, das sei eine historische Chance für den Frieden und das Voranbringen der Demokratie in der Türkei. Wie diese Äußerung interpretiert wurde, dürfte Fischer erstaunt haben. Solche Bemerkungen ließen die Absicht der Europäer erkennen, das Abkommen von Sèvres wiederaufleben zu lassen, erklärte der damalige türkische Außenminister Ismail Cem.

Seit das Osmanische Reich aufgelöst ist, assoziieren türkische Nationalisten den Namen Sèvres mit dem Begriff Trennung. Fischers Bemerkung erinnerte Cem an eine unaufgearbeitete Realität: die Teilung des vatan, des Mutterlandes.

Immer wieder wird betont, das Kurdenproblem sei kein inneres Problem des Landes, sondern ein künstliches, durch die Europäer geschaffenes. In der Türkei ist der Argwohn weit verbreitet, dass die europäischen Länder die moderne Türkei teilen wollten.

Die – aus westlicher Sicht völlig aus der Luft gegriffene – Reaktion des Außenministers Cem stellt keine persönliche Fehlleistung dar. Im Gegenteil: Sie spiegelt den Seelenzustand der Menschen in der Türkei wider.

Man ist stolz auf die Leistungen der modernen türkischen Republik, aber die Fortdauer dieser Republik wird nicht als sicher empfunden.

Das Ende des Irakkrieges bedeutet eine erneute Verschärfung. Da die Kurden als wichtige Verbündete der Vereinigten Staaten auftraten, befürchtet man in der Türkei, dass sie mit Hilfe der USA die historisch längst überfällige Freiheit im Nordirak durchsetzen könnten. Das wiederum, so meint man, stelle die territoriale Integrität des eigenen Staates in Frage.

Ist diese empfundene Bedrohung tatsächlich der Realität der gegenwärtigen außenpolitischen Lage angemessen? Es spricht nichts dafür. Im Gegenteil: Die beiden größten Volksgruppen in der Türkei (Türken und Kurden) und ihre Kulturen sind miteinander verflochten, zusammengewachsen und verwurzelt.

Die Mehrheit der Kurden lebt nicht mehr in ihrem ursprünglichen Gebiet, sondern im Westen der Türkei. Umgekehrt ist auch die Zahl der in den ursprünglich kurdischen Gebieten lebenden Türken nicht unbedeutend. Eine Teilung der Türkei erscheint auch dann nahezu unmöglich, wenn sie von beiden Seiten gewollt und angestrebt wäre.

Die mögliche Freiheit der Kurden als eine unmittelbare Bedrohung der eigenen staatlichen Existenz zu sehen mutet absurd an. Allerdings ist es eine unbestreitbare Tatsache, dass die Kurdenfrage weiterhin eine blutende Wunde der türkischen Gesellschaft darstellt.

Diese ist aber selbst verschuldet. Anstatt die vornehmlich kulturellen Forderungen der Kurden zu erfüllen und ihnen einen gleichberechtigten Status als Bürger des Staates zuzusprechen, beharren die Machthabenden auf ihrer traditionellen Verleugnungspolitik. Dem kurdischen Bevölkerungsteil des Landes wird seine kulturelle Existenz abgesprochen. Denn der reale Kern der überhöht empfundenen Gefahr ist die eigene Existenzangst.

Diese Gefahr wäre durch rationale politische Entscheidungen leicht zu beseitigen. Was jedoch erfolgt, ist eine gesteigerte Anstrengung zum Selbstschutz, getragen sowohl von der politischen Klasse als auch den Militärs. Gefesselt durch projektive Phantasmen, führen sie ihre gegenwärtige Politik ad absurdum. Die handlungsleitende Wirkungskraft dieser Phantasmen ist unverkennbar: Sie verhindern die mögliche reflexive Aneignung der soziokulturellen und historischen Erfahrung der Gesellschaft. Anstatt einem Teil der Bevölkerung die lang ersehnte kulturelle Freiheit zu gewähren, versucht der türkische Staat, die Freiheit eines Nachbarvolkes zu verhindern.

Um die Hintergründe zu verstehen, ist ein Rückblick auf die Geschichte des Landes erforderlich. Die Selbst- und Fremdwahrnehmung der türkischen Gesellschaft ist in großem Maße geprägt von der seelischen Last der Vergangenheit. Diese besteht aus den sich steigernden psychischen Folgen des Zerfalls des Osmanischen Reiches, die aus der sozialpsychologischen Perspektive als kollektives Trauma bezeichnet werden können.

Der Niedergang des Reiches bedeutete eine starke Demütigung, ein Abgleiten des Volkes in einen Ohnmachtszustand und damit in eine soziale Sinnkrise. Die Elite des Landes konnte sich mit dem Verlust der Machtstellung nicht abfinden. Man kann die Kränkung des türkischen Volkes in seinem Selbstwertgefühl besser verstehen, bedenkt man, dass es lange Zeit Teile des gegenwärtigen Europa beherrschte.

Dieses kollektive Trauma spielt eine kaum zu überschätzende Rolle bei der Bildung der nationalen Identität sowie bei den aktuellen politischen Entscheidungen.

Noch einmal die Geschichte: Die Konstituierung der türkischen Nation nahm ihren Anfang als Überlebensakt der Angehörigen des schwindenden Osmanischen Reichs und zugleich als reparativer Kompensationsversuch des gekränkten Selbstwertgefühls. Indem sich die neue türkische Republik die alten Feinde des zerschlagenen Reichs zum Vorbild machte, wendete sie die europäische Feindschaft gegen das Osmanische Reich zu einer türkischen Feindschaft gegenüber der eigenen Vergangenheit.

So setzte die kemalistische Machtelite eine Reformbewegung in Gang, deren Veränderungen die gesamten kulturellen und sozialen Lebensbereiche der Bevölkerung betrafen. Von der Schriftart bis zur Musik, von der Kleidung bis zur Sprache – fast alles, was sich in der Zeit des Osmanischen Reichs entwickelt hatte, wurde geändert. Es wurde beispielsweise 1934 verboten, traditionelle türkische Musik im Rundfunk zu senden.

Eine Zeit lang wurden Menschen, die den traditionellen Hut (den Fes) weiterhin trugen, sogar hingerichtet. Der Wunsch, die Vergangenheit ungeschehen zu machen, war überwältigend.

Auch wenn die kulturellen Reformen teilweise verbrecherisch durchgesetzt wurden, so schafften sie es doch, die Absolutheit der religiösen Symbolik des Islam zu brechen. Die sakralen Netze, deren „Festung ohne Bresche“ (al-Biruni) war, begannen für einen weltlich begründeten Begriff des Politischen Platz zu machen. So wurde ein Wandel der emotionalen Konstitution der Gesellschaft möglich. Vielleicht war es die besondere historische Konstellation, der Hass auf die eigene Vergangenheit und das Wissen über die Zukunftsfähigkeit der europäischen Perspektive, die die türkische Elite dazu befähigte, die bisher in der muslimischen Welt nahezu einmalige Erfahrung zu etablieren: eine staatsfähige Nationalkultur. Ist die Freiheit der türkischen Gesellschaft auch unvollkommen, so ist es doch umso wichter, daran festzuhalten.

Und diese Freiheit ist gegen den politischen Islam zu verteidigen. Denn dieser strebt danach, die Stoßrichtung der sozialen Entwicklung vom Partikularismus zum Pluralismus in der Türkei, die im Grunde genommen seine Existenz legitimiert, umzukehren.

Der Übergang vom Osmanischen Reich zur neuen türkischen Republik ist durch soziale und kulturelle Brüche gekennzeichnet. An die Stelle der Gottesliebe trat die Selbstliebe der Nation. Die Kehrseite dieser Entwicklung ist eine psychische Kontinuität, die den Widerstand gegen die Aufarbeitung der Geschichte markiert. Die seelische Unerträglichkeit der Schuld- und Schammomente der Vergangenheit, deren sich die Führungselite durch die Reformbewegung zu bemächtigen versuchte, mündete darin, jegliche Bindung an die Vergangenheit zu kappen.

Der Prozess der historischen Spurenbeseitigung hat dem türkischen Nationalismus seinen besonders aggressiv-narzisstischen Charakter verliehen. Solange keine Versöhnung mit der eigenen Geschichte stattfindet, wird die Gesellschaft nicht aufhören, sich auf eine giftige Weise zu lieben.

Schon der Völkermord an den Armeniern war ein Produkt dieser vergifteten Verhältnisse. Die Zahl derjenigen, die dem in der Türkei verbreiteten Gerücht glauben, der selbst ernannte Kurdenführer Abdullah Öcalan sei in Wahrheit ein Armenier, ist groß.

Gefesselt von der Last der Vergangenheit, blockiert die türkische Elite sich selbst. Denn durch Angst gesteuerte Aggression zerstört jede Freiheit, auch die eigene.

Wie ängstlich die türkische Gesellschaft ist, zeigt selbstentlarvend die Nationalhymne, die mit „Hab keine Angst …“ beginnt. Dies erinnert an Sigmund Freuds These, dass der Wanderer, der in der Dunkelheit singt, nur seine Ängstlichkeit leugnet, deswegen aber um nichts heller sieht. Die Antwort auf die gegenwärtigen Fragen der türkischen Gesellschaft hat der Geist der Aufklärung geliefert: die Selbstbefreiung von der Last der Vergangenheit durch Reflexion und die Anerkennung der Freiheit des Anderen. Nur so lässt sich eine Dynamik zur gesellschaftlichen Selbstgestaltung in Gang setzen. Die Unmündigkeit bleibt selbst verschuldet, so wie sie es seit je war.

MEHMET MIHRI ÖZDOGAN, 1970 in der Türkei geboren, lebt seit 1991 in Deutschland. Er ist Sozialpsychologe und Soziologe und promoviert an der Universität Hannover über Nationalismus in der Türkei