Trümmer in Blasstürkis

Ein Schwimmbad als Multitalent: Bremerhavens Stadtbad schien das Bädersterben auf kuriose und künstlerische Weise überlebt zu haben. Seit dieser Woche wird das Kleinod aus den Fünfzigerjahren abgerissen. Ein Nachruf

von JAN KAHLCKE

Auf nackten Fliesen liegt eine Drossel, steif und ein wenig zerzaust. Für Bremerhavens Stadtbad ist die Zeit abgelaufen. Es ist still in der Halle.

Wasser plätscherte schon lange nur noch im alten Hafenbecken auf der anderen Straßenseite. Der letzte Nutzer, das Designlabor Bremerhaven, verließ das Bad, als im Herbst die Heizung ausfiel. „Wir durften hier keine Wand versetzen“, sagt Anne Havliza, Leiterin der Kreativwerkstatt. Zwölf Jahre lang brüteten hier Nachwuchsdesigner in einstigen Sammelduschen. Putz rieselt von den Decke. Gastdozenten wie der Mailänder Stardesigner Alberto Meda hatten hinter hohen Fenstersimsen getüftelt, die einmal nackte Leiber vor der Neugier der Straße schützten.

Generationen von Stipendiaten ließen sich vom Genius Loci inspirieren: Ob Hafenhotel aus 24-Fuß-Containern oder Strandkorbvariante aus Plexiglas, ob Luxusmotorjacht nach Architektengusto oder eine neue Corporate Identity für die Bremerhavener Frozen Fish – das leere Bad am Hafen war Muse, Werkstatt und Bühne. „Für uns war die Halle als Markenzeichen enorm hilfreich“, sagt Havliza. Von den USA bis nach Japan schwärmte die Kritik von der „Magie des Ausstellungsraumes“.

Bremerhaven, von den Alliierten 1944 wegen seiner Werftindustrie zerbombt, setzte nach dem Krieg mit der Schwimmhalle ein Zeichen des Optimismus. „Möge dieser Bau künftigen Geschlechtern künden, auch vom Gemeinsinn, der uns beseelte“, hoffte Oberbürgermeister Hermann Gullasch zur Eröffnung 1956. Viele Bremerhavener erstanden einen symbolischen Baustein der „Kachelkathedrale“ – so nannte der Volksmund das Schwimmbad.

Nachdem das Trümmerfeld freigeräumt war, reckte sich zunächst majestätisch der Sprungturm in die Luft. Der „Zehner“ muss damals noch den Blick über den Deich auf die Nordsee eröffnet haben. Die Halle wurde drumherum gebaut – mit einer riesigen, seeseitigen Glasfront, als hätte man die Verbindung zur großen Nährerin nicht abreißen lassen wollen. Erst zwanzig Jahre später schob sich das Deutsche Schifffahrtsmuseum dazwischen, und der Meerblick war hin.

Äußerlich ein zurückhaltender Kubus mit Querriegel, ist der Badetempel drinnen von schlichter Eleganz: Ein Entrée wie ein Theaterfoyer. Neontentakeln ziehen sich im Milchglaskanal über die Decke, hin zu leuchtenden Rotunden. Der Bruchsteinfußboden, das überbordende Blumenfenster – hollywoodwürdig. Die Treppe schwingt sich organisch über drei Stockwerke. Jeden Moment könnte Esther Williams als „Million Dollar Mermaid“ herunterstöckeln, die Robe gerade so weit gerafft, dass sie noch die Stufen berührt.

Die Handwerker müssen gespürt haben, dass sie Besonderes bauten: In den Badezimmern, abwechselnd in Taubenblau, Himmelblau, Graublau, Meergrün, Schwefelgrün und Blasstürkis gehalten, haben sie sich unter den Spiegeln verewigt. Hier wuschen sich die Nachkriegsmalocher für einszwanzig den Schweiß ab, das Schiffsmaschinenöl, den Fischgeruch; entspannten für eine halbe Stunde den auf den Docks krumm geschufteten Rücken.

„Dieser Spiegel wurde angebracht von Dr. Hans-Otto Leiding, Professor Günter Steinfeld und von seiner Exelenz Großadmiral a. D. Erich Eichler im Jahr des Heils 1956“, steht halb ironisch und im Falle von „Exelenz“ sogar falsch geschrieben neben einer Badewanne. Es scheint, die Bauarbeiter waren noch nicht in der neuen Zeit angekommen, der deutsche Größenwahn war noch nicht aus den Köpfen vertrieben.

Dabei hatte Architekt Richard Herfort den Aufbruch, den Abschied von der autoritären Herrschaftsarchitektur sichtbar und spürbar gemacht. Gebautes Understatement. „Eine Demonstration des Antimilitärischen – menschlich, warmherzig, freundlich“, nannte der pensionierte Bremer Baustaatsrat Eberhard Kulenkampff den heute bescheiden wirkenden Bau und plädierte für den Erhalt: „Ansonsten ist Bremerhaven baukulturell doch ein Nullum.“

Eine Glasbausteinwand von der Größe eines halben Fußballstrafraums füllt das Bad mit einer Überdosis Licht. Die senfgelbe Decke scheint zu schweben, rollt in sanften Wellen auf die Tribüne zu, die Oberfläche gerippt wie das nahe Watt bei Ebbe. Nur über dem Sprungturm wölbt sich ein großer Brecher, damit die Springer federn können.

Hunderte Fans auf der steilen Tribüne hielten 1963 die Luft an, als Turmspringlegende Ingeborg Busch ins Wasser schoss. Lag es an ihrer atemberaubenden „Mannequinfigur?“, fragte ein Lokalreporter. Oder daran, dass kein Spritzer von der Oberfläche aufstieg? Deutsche Meisterin – so urteilten die Kampfrichter, die das perfekte Eintauchen sogar durch ein Fenster unter Wasser beobachten konnten. Im Stadtbadalltag, so geht die Legende, saßen dort Bademeister, die den Mädchen ungeniert auf die gespreizten Beine schauten. Abends mit Beleuchtung aus überdimensionalen Unterwasserscheinwerfern.

1986 ist Schluss: Steigende Kosten, weniger Besucher – die meisten haben inzwischen wenigstens eine Dusche zu Hause. Die Stadt zieht den Stöpsel. Ein paar Jahre träumt sie von einem publikumsträchtigen Haifischbecken im Schwimmbad. Auch von einem Fünfzigerjahremuseum ist die Rede. Musiker entdecken die wellenförmige „Akustikdecke“ – das Schwimmbad ist eine Art Konzertsaal aus Versehen. Latin-Jazzer Paquito D’Rivera schwärmte: „I would love to play in a pool again.“ Das Stadttheater gab im Ausweichquartier Stadtbad die Oper „Die tote Stadt“.

Tote Stadt – fast ein Menetekel für Bremerhaven. Seit das große Werftensterben tausende Arbeitsplätze vernichtete, verliert die Stadt ständig Einwohner. Als die Pläne bekannt werden, das Stadtbad abzureißen, das die Bürger einst selbt mitfinanzierten, macht sich Empörung breit. Jeder dritte „Fischtowner“ hat hier schwimmen gelernt. Und sie lieben das Bad, weil es die Stadt aus dem grauen Mittelmaß hob: nationale Wettkämpfe, internationales Spitzendesign und ein Bau, der exemplarisch für den zweiten Anlauf der Moderne in Deutschland steht.

Ein Architektenwettbewerb zeigte vor drei Jahren, wie man um das Schmuckstück der Aufbaujahre herumbauen und es im Kern erhalten kann. Im Schwimmbecken sollte endlich ein Audimax für die Hochschule Bremerhaven, das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung und das Deutsche Schifffahrtsmuseum entstehen – alle im Umkreis von dreihundert Metern gelegen. Auch die Stadtverordneten hätten hier würdig tagen können, aber sie verließ der Mut.

Christian Bruns ist Chef der Städtischen Wohnungsgesellschaft. Er hatte den Wettbewerb ausgeschrieben. „Tolle Ideen hat es viele gegeben“, sagt er mit einer Spur Spott in der Stimme, „aber niemand hat Geld mitgebracht.“ Das Bad hatte keine Chance. „Glauben Sie mir, ich bin doch selbst so ein Fünfzigerjahretyp“, sagt Bruns entschuldigend.

„Beachtliche Denkmalsubstanz“ bescheinigten Denkmalschützer dem Bau. Unter Schutz haben sie ihn dennoch nicht gestellt – „aus Vernunft“, weil von Stadt und Land keine Signale für den Erhalt kamen. Die Kachelkathedrale weicht einem Hochschulzweckbau. Vier Millionen Euro hätte der Umbau zum Veranstaltungszentrum gekostet. Einen Steinwurf entfernt steckt die Stadt 176 Millionen Euro in die Entwicklung des alten Hafengebiets zu einer touristisch attraktiven „Seemeile“.

Anne Havliza hat ihren Stadtbadschlüssel längst an die Leichenfledderer abgegeben. Das Historische Museum der Stadt sicherte sich die opulente Deckenbeleuchtung aus dem Foyer und ein paar andere typische Fünfziger-Details. Für die Rettung der acht Meter hohen Mosaiken an der Seeseite reicht das Geld nicht. Noch erinnern grellbunte Dreiecke an Gaffelsegler, die im Feuer der Abendsonne allmählich Richtung Helgoland schippern.

JAN KAHLCKE, 35, Exredakteur der taz Bremen, arbeitet als freier Journalist in Hamburg. Er liebt Wasser und hasst Schwimmbäder