Hundert Stunden Nachdenklichkeit

Kein Text war Muss: Bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt ging der Ingeborg-Bachmann-Preis dieses Jahr an Inka Parei, für Feridun Zaimoglu gab es den Preis der Jury. Nach der Popliteratur kehren Ernst und Innerlichkeit zurück

von GERRIT BARTELS

Wie ein Häufchen Elend wirkte Christine Rinderknecht, als sie am ersten Tag des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs inmitten der neunköpfigen Kritiker-Jury auf ihrem Stühlchen saß. Kaum hatte sie zu Ende gelesen, gab es knüppeldick Kritik von der direkt neben ihr sitzenden Jury-Vorsitzenden Iris Radisch. „Amelie Fried“, entfuhr es Radisch spontan, als „Frauenzeitschriftenliteratur“ bespottete sie Rinderknechts Text, in dem es um den Unfalltod eines Kindes und die Mitschuld der Erzählerin geht, als folgenloses „Geplapper“, dessen einzige Qualität höchstens darin bestehe, ansonsten nicht viel dagegen oder dafür sagen zu können. Das saß so sehr, dass auch der Rest der Jury in Folge Mühe hatte, sich zu einem klitzekleinen Lob durchzuringen. Wie Rinderknecht, die daraufhin auf Trostsuche ging und unablässig telefonierte, erging es auch Christof Hamann. Etwas bedröppelt stand er nach seiner Lesung im ORF-Theatersaal herum und trug sich mit dem Gedanken, sofort abzureisen, hatte sich doch kaum ein Jury-Mitglied wirklich für seinen Text erwärmen können.

Nun ist es genau diese unmittelbare, öffentlich vorgetragene und mehrstimmige Kritikerreaktion, die den Reiz des Bachmann-Wettbewerbs für das Publikum und eben auch die Autoren ausmacht. Sie alle wissen, was auf sie zukommt und dass sie ein dickes Fell brauchen. Sie alle aber wissen auch, dass allein die Teilnahme eine Auszeichnung darstellt, inklusive Perspektiven für die Zukunft, gerade in Krisenzeiten wie diesen. Denn in Klagenfurt trifft sich alljährlich – und heuer das 27. Mal – wie sonst nur auf den Buchmessen in Leipzig und Frankfurt der gesammelte deutschsprachige Literaturbetrieb mit seinen Verlegern, Lektorinnen, Agenten und Kritikerinnen, um neue Texte und mitunter unbekannte Autoren und Autorinnen vorgestellt zu bekommen; und natürlich auch, um hier durch und durch ritualisierten und in den letzten Jahren hinlänglich beschriebenen Vergnügungen nachzugehen: baden im Wörthersee, teuer essen und trinken im Maria Loreto, umsonst essen und trinken beim Bürgermeister oder konspirativ Obstler probieren beim Klagenfurter Philosophieprofessor Mitterer.

Erstaunlich ist allerdings, dass es oft genug eine große Diskrepanz zwischen der Bedeutung des Wettbewerbs und der Qualität der vorgetragenen Texte gibt. Galten die letzten beiden Jahre als echte Tiefpunkte, so war dieses Jahr vor allem in die bis auf Burkhard Spinnen und Radisch neu berufene Jury viel Hoffnung gesetzt worden. Schließlich sorgt sie für das enorm wichtige Unterhaltungselement nach den Lesungen und ist verantwontlich für die Auswahl der Autoren und ihrer Texte.

Allein der erste Tag aber mit seinen sieben Lesungen sorgte für allseits lange Gesichter. Das begann mit Fahrad Showgis lyrischem Prosatext „Die große Entfernung“, der allgemein als zu selbstverliebt und zu hermetisch beurteilt wurde, setzte sich fort bei Christina Griebel („symbolisches Gebastel“) und Christine Rinderknecht und fand schließlich seinen Tiefpunkt in dem altertümlich-märchenhaften, aber genauso enigmatischen wie geheimnislosen Stück von Katrin de Vries. Nachdem die Jury bis zu diesem Zeitpunkt noch jeden Text wortreich und klug beurteilt und zumindest ansatzweise gewisse Qualitäten bescheinigt hatte, überfiel sie bei de Vries die komplette Ratlosigkeit. Ursula März gestand gar: „Ich kapituliere vor diesem Text.“

Handwerklich okay, ansonsten Fehlanzeige, so der Gesamteindruck an diesem Tag wie auch überwiegend an den folgenden. Oder auch: langweilig, öde, spannungslos. Schlimmer aber wog der Eindruck, hier live und in full effect dem seit einiger Zeit stattfindenden Backlash nach der Popliteratur und dem endgültigen Hinwenden zu einer neuen Ernsthaftigkeit beizuwohnen. Waren bis vor ein, zwei Jahren noch Unterhaltung, neues, flüssiges, interessantes Erzählen und viel Gegenwart angesagt, dominieren jetzt, nimmt man mal diese Klagenfurter Klasse von 2003 als Maßstab, solides Kunsthandwerk und weinerliche Selbstbespiegelungen. Die totale Innerlichkeit hat uns wieder, ichbezogene Nachdenklichkeit regiert. So wurde in Klagenfurt viel an Herkunft und Psyche laboriert, Krankheiten hatten Hochkonjunktur, missglückte Ausbruchsversuche, Brüderchen-und-Schwesterchen-Geschichten, alles immer am Rande eines dann aber nur angedeuteten Wahnsinns. Die Armen! No sex, no crime. Kein Pop, kein Furor. Nur Seelenkonfusion und ganz viel Blässe. Selbst die besseren Texte entbehrten zwingender Notwendigkeiten jenseits der Schreiber-Egos, entbehrten jeglichen Aufbegehrens, stellten keine Einladung dar im Sinne von: Dieser Text ist ein Muss! Dieser Text verändert auch dich, Leser!

Wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung wirkte es, als sich am zweiten Tag und nach zwei erneuten Mädchenprosatexten die gesamte Jury auf Feridun Zaimoglus Erzählung „Häute“ einigen konnte. Ein großes Aufatmen war das, von Sprach- und Figurenreichtum war plötzlich die Rede, gar für „grandios“ wurde der Text befunden. Zaimoglu musste ja gut sein, in jedem Fall anders, das bewiesen doch seine bisherigen Arbeiten! Allerdings war sein Klagenfurt-Text ungewohnt archaisch, gewohnt deftig, aber irgendwie sehr deutsch. Das hielt Josef Haslinger trotzdem nicht davon ab, einen Exkurs über die ungemein spannende und postkoloniale Emigrantenliteratur zu halten: London, New York, Rushdie, Smith, Kureshi etc. Für ihn die beste Literatur überhaupt und auch in Deutschland schwer auf dem Vormarsch. Namen wusste er zwar keine zu nennen, und der diesjährige Klagenfurter Wettbewerb war der beste Beweis dafür, dass es sie nicht in großer Zahl gibt, aber eben Zaimoglu – ungeachtet der Tatsache, dass der sich mit seinem Text genau diesen Zusammenhängen verweigerte.

Nicht weniger groß war das Aufatmen zumindest bei Iris Radisch, nachdem Lukas Hammerstein einen Auszug aus seinem Roman „Die 120 Tage von Berlin“ gelesen hatte, einem Mittelding aus Neunzigerjahre-Spaß und Postdepressions- sowie Postpop, in dem eine Reihe von Twenty- und Thirtysomethings in leer stehenden Bürohäusern Partys feiert und feiern muss. Da hatte Radisch endlich einmal Welthaltigkeit, das war für sie „das Gegenwärtigste, was wir bisher hatten“. Nur wunderte man sich, wie schnell Radisch Welthaltigkeit mit Stadt, Berlin und Partys kurzschloss. In Berlin gibt es viel Welt, aber nicht in Mitte und den angeschlossenen Szenen, da kommt sie höchstens in Spuren vor. Nirgendwo kann man sich bekanntlich mehr von der Welt abkapseln als hier. Gibt ja nicht mal Shopping Malls!

Überhaupt die Jury: Sie vermittelte einerseits sehr geballt absolute Kompetenz, sie war fantasiereich und voller Bonmots (Spinnen), gekonnt nah am Text (Strigl), verkopft und unklar (Miller), zurückhaltend intellektuell und sehr klar (Rakusa und März), auch sehr muffelig, aber meistens zu Recht (Steinfeld). Sie hatte dann aber die Tendenz, tatsächlich schwache Texte unnötig zu frisieren, ihnen mehr Bedeutung beizumessen, als sie tatsächlich hatten, oder einen besseren Text wie den von Gregor Hens plötzlich in Frage zu stellen und geradezu abstürzen zu lassen. Selbst ein offensichtlicher Unsinnstext wie der von Christof Schreuf wurde gedreht und gewendet: Ach die Welt der Arbeit, ach Kapitalismuskritik, ach die Kommunikationsgesellschaft, da leuchteten noch die schwachsinnigsten Sentenzen von Schreuf auf einmal hell und klar. Ein Wortbrocken hier, einer dort, schon hatte der kolossale Christof sie, die Literaturkritiker. Man möchte es fast Subversion nennen. Selbst im vorangestellten Porträtfilmchen durfte Schreuf ungeniert und ohne später dafür Haue zu kriegen davon sprechen, dass es für ihn keine Unterscheidung von Schriftsteller und Nicht-Schriftsteller gebe: Punkrock hat diesem Leben ganz viel letzten Sinn gegeben.

Inka Parei wiederum war es schließlich am letzten Tag vorbehalten, der Jury den Sinn dieses Wettbewerbs und den Glauben an gute und schöne und qualitätsreiche Literatur zurückzugeben. Sie las als Vorletzte der 18 Wettbewerber einen titellosen Romanauszug, in dessen Zentrum ein alter Mann steht, der sich in einer neuen Umgebung zurechtfinden muss und dabei dem nahenden Tod entgegensieht. Ein langsamer, eindringlicher, sehr genauer und nachhaltiger Text, der die gesamte Jury in höchsten Tönen schwelgen ließ. Bis auf einen: Thomas Steinfeld. Der blieb störrisch, sah mal wieder keinen Fantasie- und Erlebnisraum geöffnet und musste sich dafür, ein seltener Misston, von Iris Radisch sagen lassen: „Sie haben kein literarisches Herz, Herr Steinfeld.“

Kein Wunder, dass Inka Parei bei so viel Begeisterung am Sonntagvormittag eindeutig wie selten und im ersten Wahlgang als Siegerin aus diesem schlappen Wettbewerb hervorging und den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt. Das fand auch das Publikum und verlieh per Internet den Publikumspreis an Parei. Ebenfalls keine Überraschung war der Preis der Jury für Feridun Zaimoglu. Den 3sat-Preis wiederum bekam Fahrad Showgi für seinen tatsächlich aus dem Rahmen fallenden, sehr radikalen und extrem dingpoetischen Text „Die große Entfernung“ – geschuldet wahrscheinlich der offensichtlichen Müdigkeit und dem Überdruss an der gesamten Veranstaltung. Wie auf dem Viehmarkt ging es schließlich beim letzten zu verleihenden Preis zu: Henning Ahrens, Ulla Lenze, Norbert Miller, Olga Flor und noch einige mehr waren da im Rennen, es war eigentlich schon egal. Nach mehreren komplizierten Stichwahlen erhielt dann Ulla Lenze den Ernst-Wilner-Preis, sozusagen als oberste Repräsentantin der unzähligen, in Klagenfurt vertretenen Seelenforscherinnen.

Dass auch Verlierer nicht leer ausgehen müssen, könnte in Zukunft Christine Rinderknecht beweisen. Eine neue Amelie Fried? Wenn sich das bei der Amelie-Fried-Fangemeinde rumspricht, dürfte Rinderknecht in punkto Auflage und Verkaufszahlen alle ihre Klagenfurt-Konkurrenten weit hinter sich lassen.