Zeit ohne Steine

Ein erster Schritt aus der verfahrenen Lage im Nahen Osten ist getan. Der Weg ist lang

von GEORG BALTISSEN

Keine Frage: Der Teilabzug der israelischen Armee aus dem nördlichen Gaza-Streifen, die Erklärung des Waffenstillstandes der palästinensischen Organisationen Hamas, Islamischer Dschihad al-Fatah und gestern Nachmittag auch der Al-Aksa-Brigaden sowie der vereinbarte Rückzug aus Bethlehem sind ein Schritt vorwärts. Das menschlich furchtbare und politische sinnlose Gemetzel, in das sich beide Seiten seit mehr als 1.000 Tagen verrannt haben, wird unterbrochen. Vorerst.

Hamas, Dschihad und die Al-Aksa-Brigaden haben außer einem propagandistischen Zugeständnis an die palästinensische Autonomiebehörde nichts verloren. Sie gewinnen Zeit, um sich, wo nötig, zu reorganisieren. Und, nicht weniger wichtig, ihre Finanzierungswege und -möglichkeiten zu überprüfen. Politisch-militärisch gesehen, haben sie an den Waffenstillstand ausreichend Bedingungen geknüpft, die es ihnen unter geringsten Vorwänden ermöglichen, zum militärischen Widerstand und zum Terror zurückzukehren. Ihren Forderungen nach Bewegungsfreiheit für Jassir Arafat, einem Ende der Blockade palästinensischer Städte und einem Stopp der Ermordung von Widerstandsführern dürfte Israel offiziell nicht nachkommen. Dennoch liegt der Ball jetzt im israelischen Feld. Es ist, so das islamistische Kalkül, jetzt an der Scharon-Regierung, ob der Waffenstillstand hält oder nicht. Trotz der propagandistischen Querschläger aus Jerusalem dürften die illegalen Liquidierungen palästinensischer Militanter ausgesetzt werden. Und mancher Palästinenser aus israelischen Gefangenenlagern entlassen werden.

In die schwierigste Lage wird dagegen die palästinensische Regierung unter Abu Masen gebracht. Die Forderung der USA und Israel nach Zerschlagung der militanten Gruppen kann er nicht erfüllen, ohne einen Bürgerkrieg auszulösen. Den Waffenstillstand zu nutzen, um massiv gegen die Islamisten vorzugehen, würde ihm im palästinensischen Lager den Vorwurf des Verrats einbringen. Er wäre politisch ein toter Mann. Ein taktischer Vorteil für die Militanten.

Doch der große Verlierer ist Abu Masen auch nicht. Der Regierungschef kann die Hudna, eine vorübergehende Aussetzung der Kämpfe, präsentieren. Und er liefert damit in etwa das, was das Nahostquartett, bestehend aus den USA, der EU, Russland und der UNO, von ihm erwartet hat. Die Belohnung: eine Einladung ins Weiße Haus. Ein Tiefschlag gegen Jassir Arafat, der in seinem demolierten Hauptquartier ausharren muss.

Auch Ariel Scharon steht nicht mit völlig leeren Händen da. Er hat den palästinensischen Militanten empfindliche Schläge zugefügt, Aberdutzende von Führern liqidiert, die Autonomiebehörde in Schutt und Asche gelegt, die Siedlungen ausgebaut und die Versicherung der US-Regierung erhalten, dass George Bush im Feldzug Scharons einen Kampf gegen den weltweiten Terror sieht. Scharons Teilrückzug signalisiert überdies Entgegenkommen gegenüber der Bush-Administration. Und das verheißt Kompensation anderer Stelle. Israel braucht Geld, viel Geld, um die marode, kriegsgeschädigte Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Und bei der versprochenen Räumung von Siedlungen könnte George Bush es bei symbolischen Aktionen bewenden lassen. Oder zumindest das „natürliche Wachstum“ der bestehenden Siedlungen vorerst nicht zum großen Thema machen. Der Trennungszaun wird ja ohnehin schon weiter gebaut, auf palästinensischem Gebiet versteht sich, trotz offizieller Einwände der US-Regierung. Und den Israelis kann Scharon die verlockende Aussicht bieten, drei Monate ohne menschliche Bomben in Bussen und Cafés leben zu können. Das rettet den Sommer.

Das Nahostquartett, allen voran die US-Regierung, kann einen nennenswerten Erfolg vorweisen. Der erste Schritt ist getan. Der durchaus kalkulierte Preis, um den alle wissen: Jede Seite hat sich so viele Bedingungen und Vorbehalte reserviert, dasss es ihr jederzeit ohne Ansehensverlust möglich erscheint, aus dem Prozess wieder auszusteigen und zum sattsam bekannten Szenario der „Vergeltung“ zurückzukehren. Dennoch: Die Eröffnung eines Prozesses, der unter direkter internationaler Aufsicht abläuft, macht es für die Konfliktparteien schwerer, sich aus nichtigen Gründen oder bloßen Vorwänden zu verweigern. Dass sie sich gegenseitig nicht über den Weg trauen, kann nicht überraschen. Es macht den Prozess schwierig, vielleicht langwierig. Aber das wäre das Beste, was ihm passieren könnte.