Jetzt als amtlicher Klassiker

800 Seiten, Dünndruck, Lesebändchen. Sauber gesetzt auf feinem Klassikerpapier mit lesefreundlicher Vanilleeistönung: H. C. Artmanns sämtliche Gedichte in einem Band

Jetzt ist er also ein amtlicher Klassiker: 800 Seiten, Dünndruck, Lesebändchen. Sauber gesetzt auf feinem Klassikerpapier mit lesefreundlicher Vanilleeistönung. Der Salzburger Verlag Jung und Jung hat, wie es so schön heißt, „Sämtliche Gedichte“ von H. C. Artmann in einen repräsentativen Band gestaucht. Das ist gut, weil man das ganze wunderbare Zeug jetzt auch ohne Rucksack mit sich herumtragen kann. Das ist aber auch nicht übermäßig sensationell, weil es sich dabei um die elegant recycelte Version einer Ausgabe handelt, die schon 1993 in zehn umschuberten Einzelbänden beim Renner Verlag, selig, erschienen ist.

Klaus Reichert hatte damals, noch zu Lebzeiten und mit Hilfe Artmanns, die weit verstreuten Texte eingesammelt und in eine sinnvolle, chronologisch-thematische Ordnung gebracht. Zehn Abteilungen, von den frühen, vornehmlich in Zeitschriften erschienenen Gedichten bis zur „Wollust des Dichtens“, Artmanns letztem Band. All das ist eine Fundgrube, eine ziemlich tiefe zumal. „wer dichten kann / ist dichtersmann“ hatte Artmann geschrieben, und nicht erst zum Büchnerpreis 1997 hieß es, Artmann könne einfach alles. Kaum eine Form, die ihm fremd gewesen wäre, kaum eine Tonlage, die er sich nicht hätte anverwandeln können. Süßliches Pathos und gewitzte Albernheit; Epigramme, freizeilige Langgedichte, gestochene Alexandriner. Überhaupt das Barocke: nicht nur als Formspiel, sondern vor allem als formsprengende Lust an der Sprache und ihrer Sinnlichkeit, bis hin zum Reden in Zungen in eigens erfundenen Sprachen.

Das alles kann man jetzt wieder und neu lesen: ausgreifende Serien wie die „Landschaften“, die legendären Dialektgedichte „med ana schwoazzn dintn“, die sich auch einem Nichtwiener erschließen, wenn man sie nur laut vom Blatt liest. Oder vielleicht die Geschichten um den „bösen caspar“: „caspar / ist im stande / eine gaslaterne / mit einer tulpe / zu erschlagen – / er ist ein meister / der unglaublichsten / vergehen …“

Und immer wieder erstaunt diese scheinbare Voraussetzungslosigkeit seiner Dichtung. Keiner Schule zugehörig, trotz aller konspirativen Umtriebe der Wiener Gruppe. Nur seiner Kunstfertigkeit und seinem eigenen Wortschatz respektive den Wörterbüchern verpflichtet, schrieb Artmann mit einer Leichtigkeit und Offenheit, die vermutlich eben darum gerade auch die Traditionslinien der Poesie zu bündeln vermochte.

An diesem Band ist jetzt gut zu sehen, wie Artmann sich gefunden hat, woher die Initialzündungen stammen. Vom Dada der Hang zum gehobenen Blödsinn und die Lust, sich einer herkömmlichen Textlogik zu verweigern. Vom Expressionismus die starken Bilder und kühnen Fügungen: Es gibt in den frühen Gedichten Genitivmetaphern, die so oder ähnlich auch bei Trakl hätten stehen können. Aber sie standen eben nicht bei Trakl, sondern direkt in Artmanns eigener Diktion.

Man könne, so Artmann in der „acht-punkte-proklamation des poetischen actes“, ein Dichter sein, „ohne auch irgendjemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben“ – es ging ihm in der Poesie primär um eine Haltung, die Haltung des Dichters und die der Wörter. Dass er dennoch so viel geschrieben hat, ist vielleicht nur eine Laune der Natur. Man sollte ihr nachgeben. NICOLAI KUBUS

H. C. Artmann: „Sämtliche Gedichte“. Unter Mitwirkung und in der Anordnung des Autors hrsg. von Klaus Reichert. Jung und Jung Verlag, Salzburg/Wien 2003, 799 Seiten, 29 €