Der Traum des Domestiken

Der Radprofi Udo Bölts ist der Inbegriff des treuen Helfers. Bei seiner zwölften und letzten Tour-de-France-Teilnahme aber wird ihm das egal sein. Diesmal will auch er eine Etappe gewinnen

von FRANK KETTERER

Er wird warten, einfach warten, bis seine Zeit kommt. Eine Woche wird das gehen, bestimmt, vielleicht sogar zwei. Dann aber, wenn die radelnde Karawane mehr als halb Frankreich schon durchquert hat und den ersten Heroen die Beine schwer werden und der Kopf müde von der unendlichen Treterei, wird er lauern wie ein Luchs. Bei jeder Ausreißergruppe wird er in Habt-Acht-Stellung gehen, wird in Sekundenschnelle abwägen, ob der Fluchtversuch Erfolg verspricht, und nötigenfalls einfach mitflüchten, so lange, bis keiner mehr folgen kann. Er wird sich dann nicht umschauen nach seinen Kameraden, diesmal, nur dies eine Mal nicht, sondern an sich denken, nur noch an sich. Und dann, wer weiß, schafft er es vielleicht wirklich und plötzlich liegt der Zielstrich vor ihm und er wird die Arme hochreißen fast bis in den Himmel, wenn er ihn überquert. Als Erster. Als Etappensieger.

„Eine Etappe bei der Tour de France zu gewinnen“, sagt Udo Bölts, „ist ein Traum, den ich mir noch gerne erfüllen möchte.“ Elf Mal ist der Mann aus Heltersberg die Große Schleife schon mitgefahren, so oft wie kein anderer Deutscher, jedes Mal ist er ins Ziel gekommen, einmal, 1994 war das und somit lange bevor ein sommersprossiger Merdinger für Furore sorgte im Land, war er am Ende sogar Neunter der Gesamtwertung. Nur als Erster diesen weißen Strich im Ziel zu überqueren, das hat er nie geschafft, in all den Jahren nicht, es war ja auch nicht seine dringlichste Aufgabe. Ganz im Gegenteil: Der Mann aus Heltersberg war in erster Linie dazu da, den anderen zu helfen vom Team Telekom, den Riis und Ullrichs und Zabels. Bölts war ihr Diener, ihr Vasall, ihr Wasserträger, Domestik heißt das in der Sprache des Radsports. Domestiken sind die Arbeiter im Peloton, selbstlos bis hin zur Selbstverleugnung. Bölts war stets einer der besten seines Fachs, einer der leidensfähigsten sowieso. Die Zunge aus dem Mund hängend oder das Gesicht zu einer Grimasse verziehend und die Lücke zwischen den Schneidezähne zeigend, so kennt man den Mann aus Heltersberg. Bjarne Riis, der Däne, wurde mit seiner Hilfe Tour-Sieger, noch mehr Jan Ullrich, der sommersprossige Merdinger. Den hat Bölts wahrhaft zum Sieg getrieben, es gibt sogar Fernsehbilder davon. In den Vogesen war es, als Ullrich damals die Kräfte schwanden und es für einen Moment so aussah, als könne er einbrechen und die Tour doch noch verlieren. Dann kam Bölts und trieb ihn nach vorne. „Los, quäl dich, du Sau!“, hat er seinen Kapitän angeraunzt. Ullrich hat die Tour dann doch gewonnen.

Der Satz hat Bölts berühmt gemacht. „Vielleicht mehr als meine sportlichen Erfolge, die ich ja schon auch vorzuweisen habe“, sagt der 36-Jährige. Er ist darüber nicht böse, ganz im Gegenteil: Er ist eher stolz darauf, der Diener zweier Tour-Herren gewesen zu sein. „Ich bin kein Siegfahrer, dafür fehlen mir einfach die körperlichen Fähigkeiten. Die Tour ist für mich eine Nummer zu groß“, sagt Bölts. Aber den Großen helfen, den Stars im Team, das konnte er noch immer. Und auch wenn Bölts eher im Schatten fuhr von Ullrich und Konsorten, so fiel ein bisschen Licht doch immer auch auf ihn. „Natürlich habe ich von all den Erfolgen profitiert“, sagt Bölts, „natürlich hat das auch meinen Bekanntheitsgrad gesteigert.“ Er hat sich das nur verdient, hart verdient. Er war immer da für seine Mannschaft.

„Die Bölts’“, hat Walter Godefroot, der belgische Telekom-Chef, einmal formuliert, „die Bölts’ geht nie kaputt.“ Vor gut einem Jahr rausgeschmissen hat er ihn trotzdem, nach 13 Jahren treuer Dienste war der Pfälzer ihm zu alt geworden. Der Mohr hatte seine Schuldigkeit getan, der Mohr konnte gehen. Udo Bölts war darüber sehr enttäuscht. „Das war wie ein Knock-out“, erinnert er sich. Dass er danach noch ein letztes Mal die Tour für die Telekom gefahren ist und am Ende auf Rang 48 bester Magenta-Fahrer war, ist nur typisch. Bölts ist halt so.

Vergessen. Vorbei. Bölts hat bei Gerolsteiner angeheuert, dem aufstrebenden GSI-Team aus dem schwäbischen Herrenberg. Dort weiß man seine Erfahrung noch zu schätzen, Bölts wurde als einer der ersten Gerolsteiner-Fahrer für die Tour nomminiert. Aber nicht nur deswegen fühlt sich der Heltersberger wohl in seiner neuen sportlichen Heimat. „Gerolsteiner ist wie ein kleiner Familienbetrieb“, sagt Bölts, das gefällt dem Familienmenschen. Da macht es auch nichts, dass die Mannschaft mit dem Tour-Sieg kaum etwas zu tun haben wird, den machen schon die anderen unter sich aus. Lance Armstrong, den Amerikaner, hat Bölts ganz oben auf seiner Kandidatenliste stehen, natürlich, aber auch Joseba Beloki von Once und Jan Ullrich, seinen ehemaligen Mannschaftskameraden, hat er durchaus auf der Rechnung. Das Team Telekom hingegen sieht Bölts nicht um die Podestplätze mitstrampeln. „Alexander Winokurow wird eine gute Tour fahren und Andreas Klöden auch“, glaubt der 36-Jährige zwar, gut heiße in diesen Fällen aber Top Ten, mehr nicht; dem Kolumbianer Santiago Botero, letztes Jahr Vierter, traut er noch nicht einmal das zu.

Letztendlich aber ist Bölts das ohnehin egal, er hat ja nichts mehr zu tun mit den Telekoms. Und mit dem eigenen Team nichts zu verlieren in den nächsten drei Wochen, man ist schließlich Neuling bei der Tour. „Wir wollen uns zeigen, mitgehen, bei der ein oder anderen Ausreißergruppe dabei sein“, sagt Bölts, das wäre auch für den Sponsor wichtig, er kommt dann im Fernsehen. Dem Italiener Davide Rebellin traut Bölts einen Tagessieg zu, dem Österreicher Georg Totschnig gar einen Platz unter den besten zehn, fürs Podest in Paris aber wird’s kaum reichen, da macht sich Bölts nichts vor.

Das hört sich bescheiden an für einen, der zweimal mitgeholfen hat, die Tour zu gewinnen. Andererseits eröffnet genau das die Möglichkeit, das ein oder andere Mal auf eigene Rechnung zu fahren und nicht Rücksicht nehmen zu müssen auf seinen Kapitän und das Gesamtklassement, die Teamleitung hofft sogar darauf, Bölts ohnehin, er hat ja noch diesen Traum – und nicht mehr viel Zeit, ihn sich zu erfüllen. Seine zwölfte wird auch seine letzte Tour sein, der Familienrat hat das so beschlossen. „Irgendwann muss ja mal Schluss sein“, sagt Bölts. Bis es so weit ist, wird er warten, einfach warten. Bis seine Zeit kommt – und der weiße Zielstrich.