Märtyrerin Asja

Oft sind es tschetschenische Frauen, die Anschläge verüben. Ihre Männer haben sie im Krieg verloren

MOSKAU taz ■ Asja Gischlurkajewa war eine kluge und nachdenkliche Frau. Was sie in Angriff nahm, erledigte sie mit besonderer Hingabe. Sie sei fröhlich und lustig gewesen, so berichten ehemalige Arbeitskollegen von Asja. Auch äußerlich hätte sich die junge Tschetschenin zurechtgemacht wie gleichaltrige Mädchen. Sie absolvierte ein externes Philologiestudium, während sie in ihrem Heimatort Atschkoi Martan eine ausgediente Bäckerei in ein florierendes Geschäft verwandelte. Das gab sie erst auf, als sie ihren zweiten Mann traf, einen Anhänger des fundamentalistischen Wahhabismus.

Asjas Mann ging bald nach der Hochzeit in die Berge zu den Rebellen. Kurz darauf wird ihr Bruder von russischen Soldaten verschleppt, seither fehlt von ihm jede Spur. Nun übernimmt die Dreißigjährige den Vorsitz der Familie, in der es keine Männer mehr gibt. Im Oktober verabschiedet sie sich von Freunden und Verwandten und gibt vor, sich in Rostow am Don in einer Klinik untersuchen zu lassen.

Tage später erkennen Freunde Asja im Fernsehen. Sie ist tot und war eine der Geiselnehmerinnen, die im Oktober siebenhundert Menschen im Moskauer Musicaltheater Nord-Ost in ihre Gewalt gebracht haben. In den Augen der Jugendlichen in Atschkoi ist Asja eine Märtyrerin. Niemand käme auf die Idee, sie eine Terroristin zu nennen.

Immer häufiger sind es tschetschenische Frauen, die seit Jahresfrist spektakuläre Anschläge verüben. Allein in den vergangenen zwei Monaten gehen vier Terrorakte auf das Konto von Selbstmordattentäterinnen. Mindestens 120 Menschen kamen dabei ums Leben. Zwei Attentatsversuche konnten im letzten Moment noch verhindert werden, auch hinter ihnen standen so genannte schwarze Witwen.

Für die Geiselnahme im Musicaltheater übernahm der zum Wahhabismus bekehrte Terrorist Schamiil Basajew die Verantwortung. Im Mai drohte derselbe im Internet, er würde Selbstmordkommandos in russische Städte schicken, in seiner Gruppe „Riadus Salichiin“ seien 36 Frauen zum Sterben bereit.

In Wirklichkeit werden es viel mehr Frauen sein, die an nichts anderes mehr denken können, als sich für den Verlust ihrer Söhne, Männer, Brüder und Väter zu rächen. Nach vier Jahren Krieg gibt es kaum eine tschetschenische Familie, die keine Angehörigen verloren hätte. Wären es nur 36 Frauen, die zudem einer Organisation Basajews angehören, wäre die Gefahr eingrenzbar. Das Risiko sind aber Frauen, die sich ganz allein für sich entscheiden, einen Anschlag auszuführen. Nach den verheerenden Gewalttaten im Mai in Snamenskoe und Ilischan-Jurt – allein in Snamenskoe starben 60 Menschen – häufen sich die Klagen tschetschenischer Männer: „Unsere Frauen haben uns erniedrigt und gezeigt, dass wir nichts mehr zählen …“

Der Krieg hat die traditionellen Geschlechterbeziehungen und sozialen Bande zerstört. Ein Tschetschene wird von Kindesbeinen zum Schutz von Haus, Hof und Familie erzogen, wofür er bereit sein muss zu sterben. Der Terror der russischen Truppen und ihrer tschetschenischen Helfershelfer hat jedoch dazu geführt, dass Männer aus dem öffentlichen Leben verschwunden sind.

Frauen verstecken ihre Männer, um sie vor Übergriffen zu schützen. Inzwischen ernähren Frauen die Familie, handeln auf den Märkten und werfen sich vor russische Panzer, die ihre Männer abzutransportieren drohen. In dieser Rolle sind Frauen oftmals radikaler als Tschetschenen. Auch wenn sie das nicht zur Schau stellen, da die traditionelle weibliche Erziehung es ihnen nicht gestattet, Gefühle offen zu zeigen.

Die Tschetscheninnen sind mit sich und ihrem Leid ganz allein. Selbstmordattentate sind so Antworten auf die Machtlosigkeit gegenüber dem staatlichen Terror. Diese Frauen werden sich von Politikappellen, den Terror aufzugeben, nicht von ihren Plänen abhalten lassen. Sie leben bereits in einer anderen Welt, in der die herkömmlichen sozialen Beziehungen und Subordinationen keine Gültigkeit mehr besitzen. Eine Tschetschenin, die mit dem Adat – Gewohnheitsrecht – und dem Islam groß geworden ist, hat mit einem solchen Schritt bereits den Boden ihrer Kultur verlassen. Es gibt daher kein Zurück mehr.

Die Palästinisierung des Tschetschenienkonflikts – die steigende Zahl von Selbstmordattentätern – ist bereits im Gang. Diese Tendenz wird sich noch verstärken, wenn der Kreml weiterhin potemkinsche Dörfer als politische Lösungen verkauft.

KLAUS-HELGE DONATH