Die rechtlose Mehrheit

Die Frauen in Afghanistan haben den Kampf um Gleichberechtigung schon fast verloren – den Irakerinnen steht er bevor. Beide brauchen dringend westliche Unterstützung

Frauen werden von der Öffentlichkeit ausgeschlossen – vom Ort, an dem politischer Wille entsteht

Das „Netzwerk der afghanischen Frauen“ hat vor kurzem einen offenen Brief an die Irakerinnen abgesandt. „Wir schreiben diesen Brief in Solidarität mit unseren Schwestern im Irak“, heißt es darin. Diese hätten ähnliche Probleme beim Wiederaufbau zu bewältigen. Mit dem Brief wollten die Afghaninnen die irakischen Frauen „ermutigen, die Zukunft ihres Landes aktiv zu beeinflussen und ihre Freiheit und die ihrer Kinder abzusichern“.

Sie selbst, schreiben die Afghaninnen, erlebten diese Zeit als eine „aufregende“, aber auch eine „gruselige“: Auf jeden Afghanen, der die grundlegenden Rechte von Frauen unterstütze, komme einer, der ihnen diese Rechte wegzunehmen versuche. Die Bedrohung ihrer körperlichen Sicherheit durch „Ehemänner, Väter, Schwiegerväter, Brüder und Warlords“ mache es ihnen fast unmöglich, voll am öffentlichen Leben teilzunehmen, also zu arbeiten, zu wählen, das Haus zu verlassen oder gar ein öffentliches Büro zu führen.

Gerade wegen dieser Sicherheitsfrage sei die Verankerung von Frauenrechten in einer neuen Verfassung so zentral, glauben die Afghaninnen und haben damit Recht. Eine neue Verfassung ist Symbol und Selbstverständigung einer Nation. Wenn sie nicht stimmt, wenn sie die Gleichheit von Verschiedenen nicht festschreibt, dann stimmt auch keines der darauf aufbauenden Gesetze. Dann ist schon der Neubeginn faul und die Wiederkehr von Gewalt zwangsläufig. Die Behauptung von Fundamentalisten, die islamischen Texte würden keine Gleichheit von Frauen und Männern kennen, nur Gleichwertigkeit, ist interessegeleitet falsch; in seiner Gründerzeit war der Islam eine durchaus frauenfreundliche Religion.

In Afghanistan haben die Frauen den Kampf beinah schon verloren. Der Verfassungsentwurf wird zwar derzeit noch geheim gehalten, er soll Ende August fertig gestellt und im Oktober von einer neuen Loja Dschirga verabschiedet werden. Doch nach Auskunft afghanischer Frauenrechtlerinnen ist darin viel von der Scharia die Rede und kaum etwas von der Gleichberechtigung der Frauen, von ihrem Recht auf Bildung, Gesundheit, Arbeit, auf selbstbestimmte Heirat und Scheidung. Damit steht weiterhin infrage, ob Afghaninnen als Menschen oder als Handelsgegenstand gelten, der mit zehn oder zwölf Jahren auf dem Heiratsmarkt gekauft und bei Nichtgefallen umgetauscht oder wegen Ehebruchs im Knast abgeliefert werden kann. Im Irak gibt es bisher noch keinen Verfassungsentwurf, aber eine von der US-Regierung zusammengestellte Kommission, die einen solchen ausarbeiten soll. Im Frühjahr, als die Kommission ernannt wurde, war darunter keine einzige Frau. Ein schlechtes Omen.

Afghanistan und Irak sind sehr unterschiedlich entwickelt, aber einiges haben sie doch gemeinsam. Unter anderem eine zahlenmäßig starke weibliche Übermacht, die völlig entrechtet worden ist. Bedingt durch die vielen männlichen Kriegstoten sind nach verschiedenen Schätzungen zwischen 60 und 65 Prozent der Bevölkerung in Afghanistan weiblich, im Irak sind es zwischen 55 und 60 Prozent. Dort heißt es allenthalben, die schiitische Mehrheit von ebenfalls rund 55 Prozent müsse im Irak berücksichtigt werden – die Mehrheit der Frauen aber thematisiert niemand.

Einstmals, in den ersten beiden Dekaden der Baath-Herrschaft, haben die Irakerinnen die weibliche Bildungs-Avantgarde des Nahen Ostens gestellt. Doch spätestens nach dem Golfkrieg von 1991 ging es für sie abwärts. Viele durch die Sanktionen verarmte Familien schickten nur noch die Söhne in die Schule, eins von drei Mädchen blieb zu Hause. Darüber hinaus verloren Frauen angestammte Rechte, zum Beispiel die Selbstverständlichkeit, allein reisen zu dürfen – als Zugeständnis Saddam Husseins an den islamischen Klerus, um seine Herrschaft zu sichern. Ab 1999 wurden sogar „Ehrenmorde“ wieder erlaubt. Frauen durften straflos von männlichen Verwandten getötet werden, wenn sie die „Ehre“ der Familie „beschmutzt“ hatten – anderswo wird so etwas „sexuelle Selbstbestimmung“ genannt.

Auch der Sturz Saddam Husseins brachte für die Frauen keine Befreiung. Manche Kriegsgegner mag der anhaltende Widerstand gegen die US-Besatzer klammheimlich freuen, für Frauen und Mädchen sind die bewaffneten Banden eine Katastrophe. Im herrschenden Klima der Straflosigkeit sind Vergewaltigungen und Entführungen an der Tagesordnung. Selbst ernannte Widerstandskämpfer glauben offenbar, sie hätten ein Anrecht auf sexuelle Belohnung. Überall auf der Welt wenden Männer in Kriegssituationen die Macht ihrer Waffen an, um Frauen und Mädchen als Gebrauchsgegenstände zu vernutzen, und Irak ist hier keine Ausnahme.

Allein im Al-Yarmok-Hospital in Bagdad wurden seit Kriegsende mehr als 300 vergewaltigte Frauen und Mädchen behandelt. Familien, die ihre Töchter bisher noch zur Schule geschickt haben, verbieten ihnen nun, einen Fuß vor die Tür zu setzen. Studentinnen werden von Fundamentalisten bedroht, einen Schleier zu tragen oder sogar die Universität zu verlassen, weil der Platz eines Weibes der am Herd sei. Frauen gehen nicht mehr zur Arbeit, sie besuchen keine Versammlung und keine Demonstration. In den Straßen Bagdads kommt nach Zählung eines Journalisten eine Frau auf 20 Männer. Die Bevölkerungsmehrheit wird von der Öffentlichkeit ausgeschlossen – dem einzigen Ort, wo politischer Wille entstehen kann. Eine in ihren Häusern eingeschlossene Mehrheit ist eine privatisierte Mehrheit.

Wenn die Verfassung nicht stimmt, dann ist der Neubeginn faul, und die Gewalt kehrt zwangsläufig wieder

Das heißt aber nicht, dass die Irakerinnen resigniert hätten. Bei einer von der Heinrich-Böll-Stiftung organisierten Konferenz meldeten sie sich jetzt lautstark und mit einer Fülle von Vorschlägen zu Wort (siehe Bericht in der taz von gestern). Einige von ihnen hatten den Krieg unterstützt, andere hatten gegen ihn gekämpft, aber in ihrer Botschaft waren sie sich einig: Helft uns, macht Druck in den internationalen Gremien, lasst uns nicht mit den fremden Besatzern und den eigenen Männern alleine! Als Irakis wollen sie ihre eigene Übergangsregierung, als Frauen wollen sie Ministerinnen, alles andere trägt für sie den Namen Demokratie zu Unrecht.

Die Bundesregierung und die deutsche Zivilgesellschaft sollten sich das zu Herzen nehmen. Der deutsche Botschafter im UN-Sicherheitsrat sollte auf der Einsetzung einer irakischen Übergangsregierung insistieren – mit „mindestens 30 Prozent Frauen“, wie es die kurdische Ministerin für Wiederaufbau forderte. Das würde enorm viel angestaute Frustration abbauen, die Sicherheitslage entschärfen, die Frauen aus ihren Häusern befreien und ihnen den ersehnten Spielraum für politische Aktivitäten eröffnen. Auch die Nichtregierungsorganisationen könnten eine Menge tun, zum Beispiel Trainingsseminare für weibliche Führungskräfte anbieten. Und die deutschen Frauenorganisationen sollten der Bitte der Konferenzteilnehmerinnen folgen: nämlich „genau zu beobachten, was mit der Verfassung geschieht“. UTE SCHEUB