Im Namen der Tulpe

Zwischen osmanischer Grand-Prix-Ikonografie, multikultureller Renaissance und Globalisierung: Die Kulturszene in Istanbul boomt. Eindrücke am Rande des diesjährigen Istanbul Music Festival

von DANIEL BAX

Virtuelle Derwische kreisen über eine computeranimierte Kulisse aus Moscheen, Meerenge und byzantinischen Kirchen. Es ist ein Werbefilm des türkischen Tourismusministeriums, der im erst vor wenigen Jahren erweiterten Flughafen von Istanbul über die Monitore flimmert und die Besucher bei der Einreise begrüßt. Der Reklamespot erinnert ein wenig an das Musikvideo zu dem Song, mit dem die türkische Popsängerin Sertab Erener vor kurzem den europäischen Grand-Prix-Wettbewerb gewann. Ihr Musikclip mit Bauchtanzszenen im türkischen Bad und im Serail läuft in Deutschland derzeit fast pausenlos auf MTV. Und setzt genauso ungehemmt wie nun auch die türkische Tourismusbehörde auf jene orientalistischen Klischees von Tausendundeiner Nacht, die in den Köpfen der meisten Europäer herumschwirren dürften, aber nicht immer mit der heutigen Türkei in Verbindung gebracht werden.

Das liegt auch daran, dass die Türkei seit ihrer Gründung den radikalen Bruch mit ihrem osmanischen Erbe suchte. Lange verleugnete das Land darum seine kulturelle und religiöse Vielfalt. Doch seit geraumer Zeit boomt speziell in Istanbul die unabhängige Kulturszene – was nicht nur zu mehr Internationalität, sondern gleichzeitig auch zu einem Revival multikultureller Traditionen geführt hat.

Ihren sichtbaren Ausdruck findet diese Entwicklung in der Renaissance des historischen Viertels Beyoglu rund um die geschichtsträchtige Istiklal-Straße. Einst bildete das Bohemequartier den kosmopolitischen Nabel der Bosporusmetropole. Doch mit dem ungehemmten Wachstum der Stadt setzte der allmähliche Niedergang ein: In den Siebzigerjahren galt die Gegend als regelrechte No-go-Area.

Seit den Achtzigerjahren aber haben sich Künstler, Intellektuelle und Yuppies das Viertel zurückerobert. Und seit am ehemals dunklen Ende der Istiklal-Straße vor einigen Jahren der Musikclub „Babylon“ eröffnet hat, sind auch hier die letzten halbseidenen Bars und Sexkinos schicken Restaurants, Cafés und Buchläden gewichen.

Im „Babylon“, seinem Stammclub, probt der türkische Percussionist Burhan Öcal mit großem Gipsy-Ensemble gerade für sein nächstes Konzert. Früher trat Öcal noch im schwarzen Anzug auf wie ein klassischer Orchesterchef. Heute trägt er lieber ein knallrotes Polohemd zur weißen Hose und eine Dolce&Gabbana-Brille auf dem pomadigen Haar spazieren und telefoniert mit Handy-Kopfhörer im Ohr, während er rasch eine kleine Mahlzeit zu sich nimmt und nebenbei dem Journalisten seine Gedanken diktiert. „Ich bin der einzige wirklich internationale Künstler der Türkei“, behauptet Öcal. „Ich bin kein Muttersöhnchen wie diese verweichlichten Popstars.“ Tatsächlich war er gerade erst in Bodrum, dem Badeort, hat schon mit Jazzgrößen wie Joe Zawinul gespielt und ist ständig rund um den Globus auf Tour. Sein überbordendes Selbstbewusstsein erklärt sich aber wohl eher aus der Tatsache, dass er es als Zigeuner in der türkischen Kulturszene so weit gebracht hat.

Anatoliens Archive

Stöbert man im Sortiment der vielen Musikgeschäfte in der Istiklal-Straße, findet man nicht nur die CDs von Burhan Öcal. Früher oder später stößt man auch auf die Veröffentlichungen aus dem Hause Kalan Müzik. Das kleine Independentlabel hat unter Intellektuellen längst den Rang einer Institution erlangt. Denn Kalan legt die kulturellen Wurzeln der Türkei frei, indem es an die Volksmusik der Armenier, Juden, Kurden und Griechen in Anatolien erinnert, aber auch an die Musik weniger bekannter Minderheiten wie Assyrer, Aramäer und Yeziden.

Seine Zentrale hat das Label auf der gegenüberliegenden Seite des Goldenen Horns, im schäbigen Betonbau von Umkapani, wo alle wichtigen Musikproduzenten der Türkei angesiedelt sind. Riza Okcu und Hassan Saltik leiten hier die Firma, die dieser 1991 gründete, um linke Protestmusik herauszubringen. „Wir verstehen uns immer noch als ein politisches Label“, betont Riza Okcu. „Aber unser Schwerpunkt hat sich erweitert.“

Heute macht Kalan jene Arbeit, die in der Türkei eigentlich ein staatliches Institut übernehmen müsste, als Archiv der verschwundenen Kulturen Anatoliens. Mit seinen aufwändig gestalteten Booklets, meist von Experten verfasst, setzt Kalan auf Information und Aufklärung – und begibt sich auf dem historisch verminten Gelände der Türkei damit zwangsläufig auf heikles Terrain. „Wir haben uns an Gerichtsverfahren gewöhnt“, gesteht Riza Okcu. Inzwischen hat das türkische Parlament wichtige Gesetze auf den Weg gebracht, die vor allem auf eine weitere Enttabuisierung des Kurdischen zielen. Riza Okcu traut dieser Liberalisierung, die der Türkei den Weg in die EU bahnen soll, aber nur bedingt: „Es gibt noch immer Schikanen und Folter“, führt er als Beispiel an. „Aber die neue Regierung ist sehr pragmatisch.“

Dass die gegenwärtige Regierung ursprünglich der islamischen Bewegung entstammt, ist für Riza Okcu dagegen kein Grund zur Sorge. „Wir haben nie an die Gefahr einer islamischen Bedrohung geglaubt. Das war nur die Propaganda des Militärs.“ Anders als viele türkische Linke hat Kalan kein Problem mit dem Islam. Weswegen das Label neben türkischen Tangos aus den Zwanzigerjahren auch islamische Musik aus der gleichen Zeit veröffentlicht.

Denn auch islamische Traditionen wurden in der Türkei lange unterdrückt. Das weiß Nail Kesova nur zu gut, der einmal im Monat am Ende der Istiklal-Straße im ältesten Derwischkloster der Stadt eine öffentliche Sufi-Zeremonie zelebriert. Im traditionellen Gewand tritt er dort mit seinen Ordensbrüdern vor Touristen auf. Entwertet die folkloristische Zurschaustellung nicht das religiöse Ritual? Nail Kesova sieht das nicht so: „Man kann es als Ritual sehen, als Performance oder Tanz: So, wie man auch einer Rose einen anderen Namen geben kann. Aber ihr Geruch bleibt stets der gleiche.“

Zum Treffen im Büro einer Moschee im Geschäftsviertel Șișli erscheint Nail Kesova ganz diesseitig in Jeans und hellem Leinenhemd und wirkt mit seiner bedächtigen Art wie ein bärtiger Meister Eder (der mit dem Pumuckl). Dabei stammt er aus einer alten Derwischfamilie und amtiert derzeit als Oberhaupt der Mevlana-Bruderschaft in Istanbul. Deren Angehörige sind im Hauptberuf Händler, Friseure oder Fabrikbesitzer; Kesova selbst war als Buchhalter einer Baufirma lange Jahre in Saudi-Arabien tätig. Heute widmet er sich ausschließlich seinen „mystischen Aktivitäten“, wie er sie nennt, komponiert Mevlana-Riten, malt Bilder und hält Vorträge über den Ordensgründer Mevlana als Philosophen, der „selbst Schopenhauer, Nietzsche und Goethe“ beeinflusst habe.

Derwisch im Untergrund

Mit der Republikgründung waren in der Türkei 1923 alle Derwischklöster geschlossen und später bestenfalls zu Museen umgewidmet worden. In der Öffentlichkeit verboten, wurden die Derwischpraktiken jedoch im Privaten weiter gepflegt. „Man kann die Klöster schließen, aber nicht die Herzen“, erklärt Nail Kesova das Fortleben der religiösen Tradition. Erst in den Achtzigerjahren jedoch durfte die Mevlana-Bruderschaft in Istanbul wieder öffentlich in Erscheinung treten. Heute wird sie weltweit öffentlich eingeladen und ist international vernetzt.

Solche Globalisierung türkischer Kultur geht einher mit einer zunehmenden Globalisierung des Landes selbst. Gerade der Kulturboom der letzten Jahre ist ein Produkt der wirtschaftlichen Liberalisierung, schließlich ist er ganz auf privaten Geld gebaut. Und wo die lokale Kulturszene boomt, ziehen wiederum die globalen Ketten nach. Eben erst hat der Sportmulti Nike in der Istiklal-Straße ein neues Flagship-Store eröffnet. Tagelang hing ein riesiges rotes Banner über der Fassade, was an sich in Istanbul keine Seltenheit ist. Nur, dass an der Stelle des Halbmonds mit Stern ein weißer Nike-Haken prangte, das Markenzeichen des Weltkonzerns.

„Turgut Özals Privatisierungspolitik hat das Land von Grund auf verändert“, sagt Ahmet Erenli, der jugendliche Direktor des Istanbul Music Festival, der von seinem Büro auf die Istiklal-Straße blickt. „Die Gesellschaft wandelt sich in großem Tempo“, glaubt er. „Nur der Staat hinkt dieser Entwicklung hinterher.“

Wo sich der Staat verabschiedet hat, zeigen heute reiche Firmenpatriarchen als Mäzene Bürgersinn. Banken und Konzerne finanzieren in der Türkei heute Galerien, Verlage und ganze Universitäten. Oder eben das Istanbul Festival, dessen Etat zu mehr als drei Vierteln von Sponsoren gestellt wird.

1972 gegründet, gliedert sich das Istanbul Festival heute in die Sparten Film und Theater, ein Festival für klassische Musik, das eben zu Ende gegangen ist, und ein Jazzfestival, das gerade begonnen hat. Die Tulpe im Logo erinnert an das erfolgreichste türkische Exportprodukt aller Zeiten und an die Blütezeit des Osmanischen Reichs. Sie symbolisiert aber auch jene kulturelle Verbundenheit mit Europa, für die das Istanbul Festival steht. Trotzdem macht sich Ahmet Erenli keine Illusionen, was eine baldige Aufnahme der Türkei in die Europäische Union angeht: „Ich persönlich glaube, dass das noch mindestens zwanzig Jahre dauern wird. Das Land ist einfach zu groß: Es würde die EU überfordern“, sagt er.

Relaisstation für Europa

Derweil arbeitet Erenli daran, das Festival als musikalische Relaisstation zwischen Ost und West auszubauen: Keine Selbstverständlichkeit, war es doch einst als Einbahnstraße konzipiert worden, um klassische Musik aus dem Westen nach Istanbul zu bringen. Inzwischen jedoch sind westliche Orchester häufiger zu Gast am Bosporus, und die Ansprüche gestiegen.

Ahmet Erenli begegnet dem mit einem Programm, das zwar mit renommierten Gästen aus aller Welt aufwartet, aber das Besondere in Exklusivereignissen sucht. Früher bildete die Aufführung der „Entführung aus dem Serail“ im osmanischen Topkapi-Palast den Höhepunkt des Festivals. In diesem Jahr aber verzichtete man ganz auf dieses eher touristische Highlight und setzte stattdessen lieber auf ein nahöstliches Geigen-Gipfeltreffen des türkischen Violinisten Cihat Așkin mit seinen israelischen Kollegen Shlomo Mintz und Yair Dalal. Auch da bildete der historische Rahmen der Hagia Irene, der Hauptspielstätte des Festivals, eine Attraktion für sich – auch wenn durch das byzantinische Kirchengewölbe noch gelegentlich die Tauben flattern.

Einen weiteren Höhepunkt markierte das Konzert von Fazil Say zum Abschluss des Festivals: Der international bekannte Pianist brachte ein selbst geschriebenes Oratorium zur Aufführung, das dem Schriftsteller Metin Altiok gewidmet war, der vor ziemlich genau zehn Jahren bei einem Anschlag islamischer Fanatiker auf eine Veranstaltung säkularer Künstler in der anatolischen Stadt Sivas ums Leben gekommen war.

Auf der Bühne des Open-Air-Theaters im Bezirk Beșiktaș rezitierte die Schauspielerin Zuhal Olcay Poeme des ermordeten Dichters, während ein Chor dazu in dräuenden Bocksgesang einstimmte. Das Oratorium kam nicht ohne Pathos aus, vermied es aber, in Gedenkkitsch abzudriften. Und die tausenden, meist jungen Zuhörer im Open-Air-Rund feierten den scheuen Pianisten dafür mit stehenden Ovationen wie einen Popstar.