Draufkommen, durchmachen, dranbleiben

Wenn heute die fünfzehnte Love Parade durch Berlin tanzt, zuckt nur noch eine Leiche. Techno aber, ihr Geist, ist im Untergrund noch immer lebendig. Es gibt eben mehr als nur eine Realität. Eine Exkursion durch die verschiedenen Aggregatzustände der ravenden Gesellschaft des Sommer 2003

Aber gesellschaftliche Veränderung entsteht, wenn die Masse von den Subkulturen lernt

von HENNING KOBER

Der Kopf ist die gemeine Fee. Ein Freitag im Sommer, es ist kurz vor fünf. Ich liege im Parkgras, der Körper ist noch giftig von letzter Nacht, der Kopf dagegen wütend, weil heute nichts passiert ist von dem, was eigentlich passieren sollte. Aber hey, gibt es etwas Schöneres als hier zu liegen und Squarepusher, den Master der erdnahen Traum-Umlaufbahn, im Ohr zu haben und sofort so ein bisschen in den Himmel zu schweben? Der ist total blau, die Wolken extrem weiß, sie rasen. Ganz toll auch die Bäume links im Wind, jedes Blatt hat ein anderes Grün. Sphärisch, weich und gut schaukelt das. Toll: Es gibt nicht nur eine Realität. Und diese Musik ist die perfekte Glücksschleuder.

Zugleich tönt es aber an allen Ecken: Techno sei tot. Rock sei jetzt der heißes Scheiß. Ein völlig überflüssiger Vergleich, denn die eine Wahrheit gibt es nicht. Aber jede Konkurrenz hat einen Ursprung, und der Kampf um Techno beginnt Anfang der Neunzigerjahre. Damals wurde Techno so unübersehbar groß, dass manches Mitglied der Regierung und mancher Spiegel-Redakteur geradezu Angst vor einer Revolution bekam. Zwei Helden der frühen Jahre, Frontpage-Chef Jürgen Laarmann und Maximilian Lenz alias DJ Westbam, jagten sie mit einem Schlachtruf noch weiter ins Feld ihrer Ängste: Die „Raving Society“ war ihr Schlagwort, das die beiden wie wild in allen ihren Interviews propagierten.

Was sie damit meinten? Den Steuersachbearbeiter, der zu, na ja, vielleicht Marusha seine Formulare ausfüllt und die ecstacyverzerrte Mutter in der After-hour? Nicht unbedingt. Wie bei allen Universalthesen mit Revolutionscharakter ging die Vision notwendigerweise weit übers Ziel hinaus. Als sich diese Hybris erwartungsgemäß nicht erfüllte, traten und treten alle die Idioten, die den Wert von Techno-Musik an den Besucherzahlen der Love Parade messen, zum Gegenschlag an. Deshalb muss man seit einigen Jahren vorhersehbare, deprimierte Texte lesen, deren Verfasser nicht nur das Ende der Love Parade prognostizieren, sondern gleich dazu das Revival der Welt ihrer Eltern feiern.

Das Schöne, wirklich Fortschrittliche an diesem Jahr 2003 in Deutschland und anderswo auf der westlichen Seite der Erdkugel ist, dass es mehr als eine Welt, also mehr als eine Realität gibt, in der man leben kann. Jeder kann wählen. Meine Realität an diesem Montagmorgen in London sieht so aus: Der Himmel ist voll mit lieben Wolken, das Licht gedämpft. Raus aus dem mit Tagesanfängern gefüllten Bus. Rein ins Colosseum, einen Club direkt an der Themse.

Montagnacht um drei Uhr, wenn anderswo in der Stadt kein Alkohol mehr ausgeschenkt wird, beginnt hier die Orange Party. Schon auf der Treppe hämmern einem die Bässe entgegen. Im zweiten Stock wird es heiß und dunkel. Hinter der Tür dann: W-A-H-N-S-I-N-N. Der Raum ist voll mit zweihundert, dreihundert total euphorischen Menschen, die unter der DJ-Kanzel zu hartem Techno ihre Morgengymnastik machen, ekstatisch tanzen. Ein älterer Asiat verteilt Pillen an die, die wollen. Und klar wollen alle. Weil hier sind die, die nicht wollen, was die Welt draußen will. Also lieber Draufkommen, Bleiben und Abfahren, als Arbeiten, Kaufen und Verkaufen. In der Ecke auf dem Podest machen zwei Jungen schön wild Liebe. Vielleicht sieht so die Hölle aus, meine Augen sehen den Vorgarten zu einer schöneren Welt.

Eine Nacht später in Berlin das gleiche Phänomen der After-Weekend-Partys, die es in jeder westlichen Großstadt gibt. Auf der Oranienstraße in Kreuzberg ist es leer und leise. Im SO 36 muss man zwei Schallschutztüren öffnen, um auf Menschen zu stoßen, die tanzen, zucken, dabei sind. Gefangen von bretterhartem Techno, vom DJ immer wieder sanft angehalten, damit die vergessenen Körper nicht zu sehr beansprucht werden.

Wer am Montag oder Dienstag morgens feiert, lässt sich das Leben nicht von festen Arbeitszeiten diktieren. Schaut man die Gesichter an, die sich meist jeden Montag hier treffen, kommt man auf die Idee, dass es doch noch so etwas wie eine ravende Gesellschaft gibt. Hier trifft sich gerade die Hardcore-Fraktion, die Tanzen und Feiern zum wichtigsten Lebensinhalt gemacht haben. Ihre Tage und Nächte spielen nach einer schönen, auch schon etwas älteren Idee, die entgegen aller Lügen immer noch funktioniert: Leben im Club.

Sie sind jung und älter, schwul und hetero, stylisch und minimalistisch, total unterschiedlich also. Die reale Welt wirkt so verstörend auf sie, dass sie sogar Taubheit durch die wuchtigen, das Ohr verletzenden Bässe bewusst in Kauf nehmen. Hier am Dienstagmorgen beim „Electric Ballroom“ im SO 36 in Berlin Kreuzberg feiern sie zusammen, getragen von tollen Techno-Idealen des Respekts und der Liebe, befriedet im Innersten.

Anderswo werden genau diese Menschen wieder zu Menschen im alten Sinn. Techno ist seit zehn, fünfzehn oder mehr Jahren ein großes Ding – je nachdem, ob man den Summer of Love 1988 in England oder den Love-Parade-Sommer 1992 als Startpunkt nimmt. Deshalb gibt es innerhalb der Raving Society inzwischen die unterschiedlichsten Menschen und auch so etwas wie ein Establishment.

Wie sich das alles verträgt? Neben Love-Parade-Wochenende und natürlich Ibiza gibt es noch einen Ort, an dem sich alle versammeln, die zur Raving Society gehören könnten: Das Sonar-Festival in Barcelona, seit zehn Jahren größtes und wichtigstes für elektronische Musik in Europa. Das Festival teilt sich in Tag und Nacht. Im Hellen sieht man die DJs, Labelmenschen, Journalisten, die Produzenten also. Nachts sind die Raver unterwegs, jünger, hungrig – die Konsumenten.

Auf dem Gelände des Zentrums für zeitgenössische Kunst in Barcelona wogt ein Meer von Menschen. Alle superstylisch, Körperkunstwerke behängt mit selbstbewusstseinsstärkenden Akkreditierungskarten, über die Schultern gehängte Sonar-Taschen, Promo-CDs in der Hand. Auf den Bühnen spielt die Musik, es wird getrunken, das Aroma von frisch gerauchtem Dope liegt überall in der Luft.

Ein Ort der Freiheit – eigentlich. Aber es regiert der Blick. Und er folgt dieser Reihenfolge: Schuhe, Schweißband, Logos und Pins an Hose und Shirt, Haare, dann vielleicht noch, falls weiteres Interesse, die Augen. Wenn die nicht von einer Sonnenbrille verdeckt sind.

Auch bei der Techno-Revolution ging die Vision notwendig weit über das Ziel hinaus

Bussi-Bussi und Hello-hello regieren den Sound. Auf dem grünen Kunstrasen vor der Bühne sind die Reviere abgesteckt. Dort sitzt Köln und verteilt Flyer für seine Party am Strand. Dort Berlin, mit Kitty-Yo- und Tresor-T-Shirts als Erkennungszeichen. „Wer bist du denn?“, ist die meistgestellte Frage. Es geht um Beziehungen oder, um ein böses Wort zu gebrauchen: Networking. Hier gehen Menschen, egal wie viel Liebe sie früher der Musik entgegen gebracht haben, ihrem Beruf nach. Und der spielt nach den alten Regeln.

Dann kommt die Nacht, der zweite Teil des Festivals. Ich stehe da mitten in einer riesigen Messehalle wie ein kleines Kind, und mir kommen gleich die Tränen. Um mich sind tausende Menschen, um die 20.000 verteilt auf drei Hallen. Über meinen ganzen Körper läuft es feucht. Turboschneller, lustiger Funky-Techno treibt aus den Boxen meine Beine an, meinen Körper, der tanzt wie noch nie. Losgelöst vom Boden, die Sinne geflasht vom Lichtspiel unter der Decke. Gegenseitig hochgepuscht vom Blicktausch mit ein paar spanischen Jungs, die jetzt schon große Augen haben vom Ecstacy.

Vorn auf der Bühne steht eine Irrsinnsfrau, Misstress Barbara, geborene Sizilianerin. Sie sieht selbst ganz weit weg aus, ihr schwarzes Haar fliegt nach hinten, sie reißt den Daumen nach oben, ihr Gesicht lacht vor Glück. G-L-Ü- C-K, G-L-Ü-C-K, schreibt es zuckend in meinem Kopf, alles ist unglaublich. So muss sie aussehen, die Euphorie des Raves. Vielleicht funktioniert Techno immer dann total großartig, wenn es um das Essenzielle geht, also um dich und die Musik. Vertreibt der Lifestyle die Musik, verliert sich der Zauber.

Heute ist also Love Parade. Viele, die jedes Wochenende in den Clubs den Technotanz zelebrieren, werden nicht mehr hingehen, weil sie all die betrunkenen Martinas, Claudias und Axels aus der Kurpfalz und dem Bergischen Land nicht sehen wollen oder können. Die Alternative ist aber auch ganz gut: gemütlich mit einer Ecstacy-Milch in der Hand auf dem Sofa vor dem Fernseher. Irgendwann kommt dann garantiert wieder dieses eine Bild, das jedes Jahr in einer Art Endlosschleife in die deutschen Haushalte gesendet wird. Es zeigt die Berliner S-Bahn über dem Tiergarten, völlig umschlungen von tanzenden Menschen. Auf einmal erscheint die ravende Gesellschaft gar keine so versponnene Hybris mehr. Denn auch wenn das eine alte Weisheit ist: Gesellschaftliche Veränderung entsteht nur, wenn die Masse ihr Verhalten von der Subkultur übernimmt.

Bei der nächsten Love Parade kann man Axel aus der Kurpfalz dann vielleicht im neu eröffneten Ostgut mit dem Rest der Hardcore Raving Society tanzen sehen. Ganz toll übrigens in diesem Jahr das Motto: „Love rules“. Weil: Liebe ist alles und das Größte. Man muss nur an sie glauben.