Raphael am Times Square

Videoschirme an belebten Plätzen, Installationen im Zellenblock eines Polizeireviers, Poster auf Bussen, Ballons in Bahnhofshallen, neblige Leuchtfeuer in Ground Zero: Die künstlerische Non-Profit-Organisation Creative Time bedenkt New York seit 30 Jahren mit Kunstaktionen im öffentlichen Raum

Seit den Neunzigern schrumpfen die öffentlichen Gelder für Creative Time

von DANIEL BOESE

Ruhig überblickt der Junge im weißen T-Shirt die Hektik am Times Square. Vom 130 Quadratmeter großen Panasonic-Videoschirm aus schaut er direkt auf New Yorks belebtesten Platz. Kein Mienenspiel prägt sein Gesicht, nur meditative Gelassenheit wird sichtbar. Der Junge heißt Raphael, gefilmt hat ihn sein Patenonkel, der Düsseldorfer Fotograf Thomas Struth. Das Videoporträt kommt ohne Aufregung aus, während rundherum unzählige optische Schlüsselreize um die Aufmerksamkeit der Passanten buhlen – von den Neon-Stars-’n’-Stripes des Army-Rekrutierungsbüros über das Reuters-Laufband mit Kurzmeldungen bis zu den Billboards.

Obwohl Raphael nur eine Minute vor jeder vollen Stunde zu sehen ist, macht das Video die Grundlagen jeder Kunsterfahrung – Schauen, Erkennen und Reflektieren – im Zentrum der Stadt sichtbar. Kuratiert wurde das Projekt von Creative Time, einer künstlerischen Non-Profit-Organisation. Sie überzeugte auch Panasonic, den Sendeplatz am Times Square während der Struth-Retrospektive im Metropolitan Museum von Februar bis Mai diesen Jahres zu sponsern. Thomas Struths Porträt ist damit auch eine Meditation über das Programm von Creative Time: durch Kunst die Erfahrung im öffentlichen Raum der Stadt zu bereichern. In den 30 Jahren ihrer Existenz hat sich die Organisation zu der Adresse schlechthin für temporäre Kunstaktionen in New York City entwickelt. Die Liste der Künstler, mit denen Creative Time Projekte realisierte, geht in die tausende, darunter finden sich so bekannte Namen wie Jenny Holzer, Phil Glass oder Nam June Paik.

Gegründet wurde Creative Time 1974 von der Künstlerin Anita Contini aus dem Wunsch heraus, dass Künstler außerhalb von Museen, Galerien oder ihren Ateliers aktiv würden. Contini begann, das Experimentieren mit Kunst in der Stadt durch Auftragsarbeiten zu fördern. Für das Projekt „Breaking In“ übernahm beispielsweise eine Künstlergruppe ein ehemaliges Polizeirevier. Die Installationen im Zellenblock zeigten unter anderem einen interaktiven Raum des Videokünstlers Vito Acconci über Homosexualität im Knast. Der Anfang wurde nicht zuletzt durch die damalige Bereitschaft des Bundesstaates möglich, Kunst zu fördern, auch von Künstlern, die Positionen vertraten, die der der Regierung widersprachen. Das Budget von Creative Time wurde von Beginn an stark vom National Endowment for the Arts (NEA) und anderen staatlichen Stellen getragen. So konnte Creative Time während der Achtzigerjahre auch Projekte fördern, die stark politisch und sozial engagiert waren.

Das aus dem Act-up-Umfeld entstandene Künstlerkollektiv Gran Fury plakatierte zum Beispiel 1989 auf den Bussen in New York das Poster „Küssen tötet nicht, Gier und Gleichgültigkeit töten“. Creative Time erstritt vom New Yorker U-Bahn-Unternehmen MTA die Genehmigung für das Poster, auf dem gemischtrassische und homosexuelle Paare beim Küssen abgebildet waren. Die Kampagne zur Aidsaufklärung, die die bekannte „United Colors of Benetton“-Kampagne zitierte und sich für eine bessere medizinische Versorgung stark machte, war bei den MTA-Verantwortlichen auf harten Widerspruch gestoßen.

Zu Beginn der Neunzigerjahre nahm die Unterstützung der öffentlichen Hand für Creative Time stark ab. Ausgerechnet unter dem Label der Political Correctness entbrannte plötzlich eine heftige Kontroverse wegen der Unterstützung von Ausstellungen von Robert Mapplethorpe oder Andres Serrano, dessen „Piss Christ“ einen Skandal ausgelöst hatte, durch die NEA. Die Konsequenzen der Debatte resümiert die heutige Direktorin Anne Pasternak: „Die Konservativen haben die Öffentlichkeit wirklich überzeugt, dass die Regierung ihrem patriotischen Auftrag widerspricht, wenn sie solche Künstler unterstützt. Außerdem haben sie die dumme These verbreitet, dass Kunstförderung den Rentnern und Obdachlosen Geld wegnimmt.“ Durch diese Veränderung des kulturellen Klimas schrumpfte der Anteil öffentlicher Gelder am Budget von Creative Time von knapp 80 Prozent 1990 auf heute etwa 25 Prozent. Seit „dieser fast vollständigen Privatisierung der Kunst“ nimmt daher das Einwerben von Spenden bei Firmen, Stiftungen und Privatleuten einen immer größeren Teil der Aufgaben ein.

Auch der Streit um Rudy Giulianis Law-and-Order-Politik der Neunzigerjahre berührte Creative-Time-Projekte. 1994 ermöglichte Creative Time mit dem „42nd Street Art Project“ einerseits zwar 25 Künstlern auf einem Block der 42. Straße zwischen Broadway und 7th Avenue auszustellen. Andererseits unterstützte Creative Time damit Giuliani und seine Investoren bei der heftig umstrittenen Säuberung der 42. Straße von Pornoläden. „Die Neuentwicklung des Times Square hätte auf jeden Fall stattgefunden“, rechtfertigt Anne Pasternak die Entscheidung ihres Vorgängers. „Künstler haben immer die Wahl, zu einem Projekt Ja oder Nein zu sagen. Es war besser, ihnen eine Gelegenheit zu geben und zu sehen, ob sie sie ergreifen wollen.“ Trotz der klaren Vorgabe, dass die Künstler keine offen sexuellen Referenzen benutzen durften, führte also Creative Time das Projekt durch. Mit Blick auf die reiche Geschichte der Straße nutzte der Modedesigner Todd Oldham die Fassade des Liberty Theatre, wo in den Zwanzigerjahren Musicals von Cole Porter und George Gershwin liefen und später ein Pornoladen war. Mit einem Wandgemälde, das einen Reigen von Showgirls und Vierteldollarmünzen zeigte, fokussierte er die Aufmerksamkeit auf den Slogan, der noch auf der Fassade zu lesen stand – ganz explizit in seiner Botschaft „Peepland – Nude Dancing Girls“.

Da alle Creative Time Projekte zeitlich begrenzt sind, fällt die öffentliche Diskussion um die Werke oft schwächer aus, als dies bei permanenten Installationen wohl der Fall wäre. So konnte der japanische Künstler Takashi Murakami im Frühjahr 2001 in der Haupthalle der Grand Central Station seine Superflat-Kreaturen freilassen: Ballons mit zahllosen Comicaugen schwebten unter der Beaux-Arts-Decke der Vanderbilt Hall, die erst durch den Druck einer breiten Protestbewegung vor dem Abriss bewahrt wurde. Als einmonatige Installation mochten Murakamis Manga-Skulpturen manchen Pendler an den Kampf erinnern, in dem sich selbst Jackie Onassis engagiert hatte.

Das Meisterstück von Creative Time entstand spontan: Vier Stunden nachdem die Twin Towers am 11. September eingestürzt waren, fragte die Art-Direktorin des New York Times Magazine Anne Pasternak nach Künstlerreaktionen auf den Anschlag. Pasternak empfahl Julian LaVerdiere und Paul Myoda, die für Creative Time an einer Fackel auf dem World Trade Center gearbeitet hatten. Ihr Vorschlag, zwei neblige Leuchtfeuer in Ground Zero zu installieren, landete auf dem Cover des Magazins. Es folgten über 13.000 persönliche E-Mails und viele Medienberichte, die sich für die Verwirklichung des „Tribute in Light“ aussprachen. Genau sechs Monate nach dem 11. 9. ging das Licht für das temporäre Mahnmal an.