Am besten gar nichts einnehmen

Über 1.000 Seiten zu 11.000 Medikamenten! Wer will das lesen? Ein Faltblatt über gefährliche Mittel hätte es getan

Sie gehören fast in jede Kindheitserinnerung, jene dicken Wälzer mit den faszinierend gruseligen Abbildungen von Körpern voll Pusteln oder Gichtknoten; Beispiele von Basedow-Augen oder amputierten Gliedern, verkrümmten Knochen oder verschlungenen Därmen. Meistens stammten die Bücher noch aus der Kindheit der Eltern, dienten eine Phase lang zur erregenden Partyunterhaltung und wurden dann später irgendwann durch „Meine sanfte Hausapotheke“ ersetzt oder ergänzt.

Der Mensch als Patient möchte nicht ahnungsloses Ärzteversuchsobjekt sein, gerade Eltern wollen ihren Kindern nicht mehr Arznei als nötig zumuten – so weit alles schön, aber was um Himmels willen sind das für Menschen, die sich ein mehr als 1.000-seitiges Buch über Arzneimittel kaufen? Warum sollte man „kritische Gebrauchsinformationen zu 11.000 (elftausend!) Arzneimitteln“ haben wollen?

Zumal bis auf die marktschreierisch angekündigten Seiten unter der Kapitelüberschrift: „Medikamente, die unserer Meinung nach verboten werden sollten“, die Beschreibungen den branchenüblichen Beipackzetteln ähneln. Vielleicht hätte ja ein Faltblatt mit ebenjenen „zu verbietenden“ Präparaten gereicht. Zu denen gehören übrigens außer einigen Schmerz-/Migräne- und Schlankheitsmitteln durchaus auch ein Immunsystemstärker, ein homöopathisches Kombinationsmittel oder Erkältungsarznei.

Nur: Schaut man sich einmal die Gründe an, warum etwa Wick DayMed-Kapseln verboten werden sollten, dann ist es der Wirkstoff Phenylpropanolamin, („verengt die Blutgefäße. Dadurch erhöht sich der Blutdruck und die Schleimhäute schwellen ab“). Er gelte als überholt und könne schwere Nebenwirkungen auslösen. Nachfolgend erfährt man nichts weiter über Phenylpropanolamin, sondern vielmehr über die Fragwürdigkeit der Gesamtkombination von erwähntem Phenylpropanolamin, Schleimlöser Guaifenesin, dem Schmerzmittel Paracetamol und Vitamin C. Das alles zusammen scheint nicht kompatibel mit mehr als drei Gläsern Alkohol zu sein. Ja, sollte man die denn tatsächlich konsumieren, wenn man Grippe hat? Und auch wenn man keine hat, könnte nicht der tägliche Konsum von mehr als drei Gläsern Alkohol die Leber schädigen, wie hier unter „wirklich wichtige Wechselwirkung“ gewarnt wird?

Die wichtigen Fragen fehlen

Auch Schlafmittel oder Antidepressiva oder Betablocker sollen nicht mit Wick DayMed zusammen eingenommen werden. Nun sollte man eigentlich davon ausgehen, dass Menschen, die Betablocker nehmen müssen, sich durchaus über deren Gefahren im Klaren sind, und wenn nicht, sind sie dann wirklich diejenigen, die sich für die Lektüre von „3 x täglich“ interessieren? Sicherlich sollten Patienten, die ein bestimmtes Anti-Aidsvirus-Mittel nehmen, wissen, dass Johanniskraut die Wirksamkeit verringert, und Frauen mit hormonabhängigen Tumoren, dass sie möglichst keine Traubensilberkerze (Cimicifuga) einnehmen sollten, weil diese östrogenartig ist. Aber Viruskranken wie Aidspatienten und Tumorkranken sei dann doch eher eine spezifischere und weiter gehende Lektüre empfohlen als dieses zwar furchtbar dicke, aber dann auch wieder furchtbar beliebige Nachschlagewerk.

Die wichtigen Fragen werden nämlich hier nicht behandelt: warum wir eine Gesellschaft von medizinisch überversorgten und körperlich unterinformierten Konsumenten sind, die einfach zu gerne beim Arzt sitzen, um sich dort jede Menge Arzneien abzuholen. Die Weltgesundheitsorganisation hat einmal für die medizinische Versorgung der Dritten Welt ausgerechnet, dass mit 50 Arzneiwirkstoffen eine ausreichend gute Medizin geleistet werden kann – wieso brauchen wir hierzulande, im Paradies der blitzsauberen Allergiker, alberne ELFTAUSEND Medikamente? Und wieso gibt es nicht einen einfachen, praktischen kleinen Ratgeber, der sagt: Wo ruft man bei welchem Problem an, und welche Fragen sind auf jeden Fall zu stellen?

RENÉE ZUCKER

Hans Weiss: „3 x täglich. Kritische Gebrauchsinformationen zu 11.000 Arzneimitteln“, KiWi, Köln 2003, 29,90 €