Die letzten Rülpser der Nation

Festung, Wagenburg oder Groß-WG? Streifzüge durch Europa (I): Wie zusammenwächst, was vielleicht doch noch nichtso richtig zusammengehört – trotz der Erfolgskombination Ferrari/Schumi, wie das italienisch-deutsche Sommertheater zeigt

Man steigt in italienischen Klamotten in ein deutsches Auto Die „diplomatische Verwicklung“, die politische Aufregung ist reine Show

von GEORG SEESSLEN

Irgendwas ist da zwischen Italien und Deutschland passiert. Man weiß nicht genau, ob man es ernst nehmen soll, ob es noch peinlich oder schon politisch ist oder umgekehrt.

Es geht bei dieser Affäre um mehrerlei: um italienische Innenpolitik, Machtkämpfe in einer Koalition von drei verschiedenen Spielarten des Rechtspopulismus. Es geht um politische Arroganz, die es oft gibt, wenn das Amt für Menschen ein paar Nummern zu groß ist. Und es geht wohl auch um klammheimliche Genugtuung. Es ist ja noch nicht lange her, dass die deutschen Touristen Einheimische für kinderreiche, arbeitsscheue Analphabeten hielten und italienische Menschen sich im Dienstleistungsgewerbe mehr gefallen lassen mussten als einem freundlichen transkulturellen Dialog gut tut. So lange ist es auch noch nicht her, dass die Väter der deutschen Touristen über das Land hergefallen waren: Sagte da nicht mal wieder ein Rechter, was sich ein Linker allenfalls heimlich zu denken wagt?

Zugleich geht es um eine Art authentische Radikalität – wenn schon Rassismus, dann aber auch umfassend. So beleidigt ausgerechnet Stefano Stefani, der für Tourismus zuständig ist, eine Touristengruppe und also Wirtschaftsfaktoren. Und es ist ausgerechnet der Lega-Nord-Politiker Stefani, der nichts anderes im Sinn hat als die Auflösung der ungeliebten italienischen Nation, der mit nationalen Vorurteilen hantiert.

Berlusconis Kapovergleich, die Entschuldigungs-Nichtentschuldigung-Spielerei, die Rülpswettbewerbtiraden des Stefano Stefani, des Kanzlers Rücktritt vom Italienurlaub, all das, heißt es, sei „Sommertheater“. Wenn das stimmt, dann sieht dieses Stück ein bisschen so aus, als hätte Dario Fo einen Komödienstadel gegen den Strich inszeniert. Also in allem Blödsinn offen für die Suche nach Ursachen, Interessen und Wirkungen.

Italien ist für Deutschland viel mehr als ein „Urlaubsland“ – in der Geschichte, im Alltag, in Träumen und Bildern. Tatsächlich verheeren die Deutschen die Strände auf Mallorca oder in Südspanien viel nachhaltiger als in Italien. Aber sie verschwinden auch nachhaltiger, wenn die Saison vorbei ist. Und sie ziehen sich anderswo konsequenter in ihre Swimmingpoolfincas und Luxusghettos zurück.

So konnte die „Toskanafraktion“ in Deutschland zu einem politisch-kulturellen Begriff werden, der zwar schwer in Worte zu fassen ist, aber ein sonnenklares Bild ergibt. Deutschland und Italien sind sich so nah, dass Teile der deutschen Kultur nur im Umweg über Italien zu verstehen sind und umgekehrt. Über Wim Wenders werden in Italien mehr Magisterarbeiten geschrieben als in Deutschland, und Nanni Moretti wärmt das nordische Gemüt. Die Empfindung von Grenze und Andersheit ist verblasst. So gibt es zwischen Italien und Deutschland keinen Dialog mehr – eher eine Art des freundlichen, manchmal zähen Halbverschmelzens.

Gegenseitige Bewunderung, gepaart mit leicht ironisch getönter, herablassender Toleranz, hat längst den ehemaligen Deutschmarkkolonialisten, „Man spricht deutsh“-Paranoiker und Kulturbanausen als Leitbild abgelöst. So wurden der ökonomisch so tüchtige Deutsche und der kulturell überlegene Italiener eine Paarung. Schumi und Ferrari – das ist die italienisch-deutsche Symbiose von Sturheit und Eleganz.

Denn neben den „gewöhnlichen“ Touristen gibt es eine Anzahl Deutscher in Italien, und auch Italiener in Deutschland, die keine „Ausländer“ mehr sind. Diese deutschen Italiener und diese italienischen Deutschen bleiben auf besondere Weise in sich gespalten. Sie arbeiten deutsch und leben italienisch, auf beiden Seiten der Alpen. Damit sind sie Symptome der Verschmelzung und zugleich Symptome deren Unmöglichkeit. Weil beide Lebensbereiche so strikt getrennt sind – hier Kultur und Lebenskunst, dort Tüchtigkeit und Gesundheitsvorsorge –, kommt es zu keiner „Kreolisierung“, zu keiner politisch-ästhetischen Spannung.

Obwohl man sich nah ist, fällt man beiderseits immer wieder auf die selbst produzierten Mythen herein. Genau besehen ist kaum ein Deutscher besonders tüchtig, sondern hat nur das Glück der späten Industrialisierung. Und genau besehen hat kaum mehr ein Italiener Kraft, Lebenskunst und Kultur zu verteidigen, gegen das Fernsehen zum Beispiel. Tüchtigkeit und Lebenskunst sind auf beiden Seiten einfach Markenzeichen geworden. Man steigt in italienischen Klamotten in ein deutsches Auto. Deutsche Technik und italienisches Design. Label eben. Aber auch so eine Ernüchterung kann ja hier und da der Beginn einer wundervollen Freundschaft sein.

Gestoppt wurde dieser Prozess der kulturellen, alltäglichen Halbverschmelzung durch zwei Ereignisse: die deutsche Wiedervereinigung und vor allem die Wirtschaftskrise. Damit brach das Bild vom tüchtigen Deutschen, der seiner eigenen Tüchtigkeit im Süden entkam und sich hier mit Kultur und Lebensart versorgte, endgültig zusammen. Umgekehrt verblassten mit Berlusconi die Mythen von Kultur und Lebenskunst angesichts der Viertel- und Halbfaschisten, von denen sich Italien einfach nicht befreien wollte. Statt Lebenskünstler, Tüchtigmänner und -frauen begegnen sich nun zwei unterschiedliche Formen von politisch-ökonomischen Versagern.

Kurzum: Deutschland wurde in den späten Neunzigern immer italienischer – ohne freilich die Dauerkrise mit der gleichen Gelassenheit ertragen zu können, die man bei den Italienern bewunderte. Und Italien wurde immer deutscher – ohne freilich die Brutalität von Wachstum und Bürokratie hinter der biedermännischen Vorgartenverlässlichkeit verbergen zu können, wie man sie bei den Deutschen schätzte. Die deutsch-italienische Verschmelzung der Achtziger wiederum war keine Verschmelzung der Migration, sondern der Überflüsse. Diese Überflüsse wurden auf beiden Seiten aber entschieden weniger in den letzten Jahren. Und wie es so bei Beziehungen geht: Wer sich ähnlicher wird, kommt nicht unbedingt harmonischer miteinander aus.

Auch die Verhältnisse auf den Campingplätzen und in den Bettenburgen der All-inclusive-Pauschaltouristen hatten sich zunehmend freudlos entspannt. Die Preise und Polizeiverordnungen sorgten dafür, dass die allerschlimmsten Knauser und Kampftrinker nicht unbedingt über italienische Strände herfielen. Und eine italienische und eine deutsche Familie in der Bungalowanlage kann man im Erscheinungsbild höchstens noch durch ihre Kaffeesorte auseinander halten. Das hat Nachteile: Man will doch im Urlaub auch sozial „woanders“ sein. Hier aber trifft sich ein europäisches Kleinbürgertum, das in allen Ländern von seinen Regierungen auf die gleiche Weise verladen wird und das auf die gleiche Weise hilflos auf dieses Verladenwerden reagiert. Der italienische Traum zerbrach für den Deutschen, und der deutsche Traum zerbrach für den Italiener, ganz einfach durch seine Erfüllung. Nun verdauen alle die gleiche Pasta am gleichen Strand und besuchen die gleichen Museen.

Erst die Bild-Zeitung mit ihren Schröder-Anfeuerungen macht einen am Strand wieder „anders“. So hat Stefanis Unfug die Unterschiede scheinbar wieder klar gemacht. In Wahrheit bestätigt diese Pseudorüpelei eher die Verschmelzung, als dass sie dadurch aufzuhalten wäre. Denn Herr Stefani hat vor allem eine Art des gemeinsamen Regredierens ausgelöst, die man sich ansonsten eher in der synthetischen Gegnerschaft von Regionalpatriotismus im Fußballstadium leistet: so wie ein Kölner böse Witze über Düsseldorf macht, und wie man überhaupt sein Regionalbashing betreibt, indem man alle jene inneren historischen und kulturellen Widersprüche und Schulden aufhebt, die die „nationale Einheit“ politisch verbietet. Bayern und Preußen pöbeln sich nicht umsonst so gern an, auch wenn die meisten die historischen Ursachen vergessen haben. Man ist zur Nation verschmolzen und hat dabei die historischen, gewaltsamen Ursachen dieses regredierten Hasses vergessen. So werden aus historischen Schulden Mentalitäten, aus den Wunden im Kulturkampf charakterliche Unterstellungen, aus religiösen Widersprüchen Witze über die Geistlosigkeit und Barbarei des anderen beim Sex oder beim Essen. Das Regionalbashing ist eine Strafe für eine kulturelle, politische und ökonomische Verschmelzung, die man nicht gewollt hat, und zugleich Symptom der vollzogenen Verschmelzung.

Der Fortschritt macht aus diesen untergründigen Aggressionen in einer halb verschmolzenen Gesellschaft ein, na ja, Kulturgut. So wird die ganze Sache selber wieder Kultur, oder wenigstens Fernsehen, und schließlich auch ein Geschäft: Ostfriesenwitze auf Klopapier. Ich wette, die lärmenden, rülpsenden, blonden Streber am Strand werden zu fixen Figuren der populären Kultur, hier wie dort, sie werden in idiotischen Schlagern besungen, in schlechten Filmen abgebildet und auf idiotische T-Shirts gedruckt. Denn so böse können einander fremde Kulturen gar nicht sein, da ist Respekt, Diplomatie oder vielleicht auch das Unwissen zu groß. Hier wissen alle Beteiligten, dass dieser synthetische Binnenrassismus eigentlich Unfug ist, der auf begrenztem Terrain ausagiert wird: so wie Beschimpfungen im Fußballstadium, die ja auch selten außerhalb wiederholt werden.

Allerdings gibt es einen Unterschied. Berlusconi/Stefani haben von oben inszeniert, was das Volk normalerweise besorgt, weil es halt so kindisch und spontan ist. Und auch die deutsche Reaktion war eher medial inszeniert. Das freilich deutet eine nächst höhere Stufe des Rechtspopulismus an: Die Populisten besorgen die volkstümlichen Entgleisungen selber; wenn das Volk nicht -tümlich genug ist, muss es eben dazu getrieben werden. Die Presse macht mit, dafür ist gesorgt. So wehrt sich nicht mehr das Volk mit wechselseitigen Beleidigungen gegen eine Verschmelzung, die ihnen Politiker aufzwingen, nun wehren sich Politiker gegen eine Verschmelzung, die ihnen möglicherweise das Volk aufzwingt.

Am Ende ist ein solcher „Streit“ natürlich auch ein Indiz für die Abschaffung des Politischen. Europa wird auf den Märkten, an den Stränden und in den Medien gemacht. Man verkehrt auf dem Level von Talkshows und Trash-TV miteinander. Diese Beleidigung hat etwas ungemein Intimes, Nachbarschaftliches, Kumpelhaftes an sich, ein Beziehungsstreit zweier einander schon zur Unkenntlichkeit verbundener Lebensweisen von Menschen, die wissen, dass sie die mühsam erreichte kulturelle Höhe ihrer Beziehung nicht werden halten können. Man wird gemein aus Langeweile. Die „diplomatische Verwicklung“, die politische Aufregung ist reine Show. Am Strand von Alassio redet man über diese Affäre wie über das Fernsehprogramm oder eine der üblichen Fehlleistungen nationaler Moderatoren. Man versteckt sich zurzeit nicht hinter seinen Zeitungen, man versteckt seine Zeitungen voreinander. Ein bisschen peinlich ist man sich gegenseitig doch. Und politisch ist es auch. Irgendwie.