ulrike herrmann über Non-Profit
: Das Leben als Roman

In Hoyerswerda muss man nicht wohnen. Aber wer Franziska Linkerhand nicht kennt, verpasst was

Brigitte Reimann wäre in diesen Tagen 70 Jahre alt geworden. Brigitte Reimann? Keiner meiner Freunde hat je von ihr gehört. Ostdeutsche wissen jetzt: Ich bin aus dem Westen. Denn Reimann hat eines der Kultbücher der DDR geschrieben, Franziska Linkerhand. Jeder lesende Ostdeutsche scheint es gelesen zu haben.

Es ist nicht leicht zu beschreiben, was auf den 600 Seiten eigentlich passiert. Denn so viel geschieht gar nicht. Eine junge Architektin glaubt anfangs an den Sozialismus und verzweifelt dann an den menschenfeindlichen Neubauquartieren, die sie planen soll. Außerdem verliebt sie sich in Ben Trojanowicz, einen intellektuellen Bauarbeiter, der mehrmals von der Uni relegiert wurde und eine Haftstrafe in Bautzen abgesessen hat. Diese Liebe ist nicht glücklich, schlittert in Abhängigkeiten, endet in einem Abschied, aber sie ist bedingungslos, ausweglos. Die Sprache, gerade der Liebesszenen, mag manchmal kitschig sein. So mokieren sich professionelle Kritiker gern über Formulierungen wie den „brandig süßen Geruch der blonden Haare in deiner Achselhöhle“. Nun ja. Was ist schon Kitsch. Auch Lessings Minna von Barnhelm klingt manchmal wie die Vorlage für Courths-Mahler. Ausgerechnet im Kitsch scheinen wir uns zu erkennen.

Es hilft, keine Germanistin zu sein, wenn man sich schamlos begeistern will. Um also damit herauszurücken: Ich halte Franziska Linkerhand für ein großartiges Buch, für eines der besten, das ich je gelesen habe. Meine Freunde sollten das verstehen, also bekamen sie es alle zum Geburtstag geschenkt. Außerdem war es durchaus praktisch, dass ich mich so sehr darauf verlassen konnte, dass sie es nicht kannten.

Um sie zum Lesen zu animieren, machte ich es wie viele Rezensenten: Ich erzählte gar nicht lange über das Buch, sondern gleich über Brigitte Reimann. Denn ihr Leben ist wie ein Roman, das gilt wahrscheinlich für jeden, aber sie hat es selbst so empfinden können. So hat sie ihr Leben zum Roman gemacht, sie ist das Alter Ego von Franziska oder umgekehrt.

Zehn Jahre lang hat sie an diesem Buch gearbeitet und es nicht beendet. Sie konnte nicht von ihm lassen, sich zu keinem Ende entschließen – gerade weil ihr eigenes Ende so sehr drohte. 1968 erkannte man ihren Brustkrebs, zu spät, bis 1973 ist sie daran in Etappen gestorben, mit knapp 40 Jahren. Auch das erklärt, warum sie im Westen so unbekannt ist.

Viermal hat sie geheiratet, die Liebschaften sind unzählbar, aber nur ihre dritte Ehe war für sie lebenswichtig – mit einem Hans K., den sie Jon nannte. Er war das Vorbild für Ben und verließ sie für eine andere Frau, kaum dass ihr die erste Brust abgenommen war. Nun saß sie da mit einem halb fertigen Manuskript, das ihn idealisierte. Sie hat es trotzdem fast zu Ende gebracht.

Denn sie hat mit Jons Abgang so sehr gerechnet wie mit ihrem eigenen frühen Tod. Als der Krebs noch fern war, mit knapp 30, da notierte sie schon in ihrem Tagebuch: „Ich mache es nicht mehr lange.“ Da hatte sie bereits eine Kinderlähmung, eine Abtreibung, eine Fehlgeburt und einen Selbstmordversuch hinter sich. Der stets präsente Tod war ambivalent: vermeintliche Strafe für das ausschweifende Leben, aber auch Verlockung, Ausweg aus der Eintönigkeit. Ekstase gibt es eben nur, wenn man ihr Ende mitdenkt.

All dies ist noch keine Literatur, zugegeben, sondern Klatsch. Er soll ja auch nur neugierig machen auf eine Schriftstellerin, die beides konnte, was dazu gehört, – erzählen und beschreiben. Nur weil sie so viel Talent besaß, konnte sie Ungeheuerliches wagen. Brigitte Reimann hat riskiert zu schildern, wie es sich in einer DDR-Retortenstadt wie Hoyerswerda lebt. Sie hat die Ödnis selbst zum Thema gemacht, gerade weil sie eine der ganz wenigen war, die nicht fürchten mussten, dass ihr Buch dadurch öde wird. Sie hat sich auf diese eigene große Begabung verlassen und ihr dennoch nie getraut. Bis in den Tod begleiten sie Versagensängste, eine ihrer letzten Eintragungen lautet: „Zweifel an meinem Beruf, meiner Tauglichkeit.“

Die Leser sind sich sicherer, sie bescheren dem Buch immer neue Auflagen. Als ich Franziska Linkerhand zum allerersten Mal bestellte, da strahlte die Verkäuferin, eine Ostberlinerin: „Das müssen Sie kennen! So war’s!“

Anmerkungen zu Franziska Linkerhand?kolumne@taz.de