„Die Leute sind unglücklich“

Große Oper ist gerade richtig: Ein Gespräch mit dem chinesischen Regisseur Chen Kaige über seinen neuen Film „Xiaos Weg“, die Opfer der Kulturrevolution und die Nähe Chinas zur westlichen Welt

Interview CLAUDIA LENSSEN

taz: Chen Kaige, Sie schauen aus Ihrem Hotelfenster. Finden Sie, Berlin hat etwas mit Peking oder Schanghai gemeinsam?

Chen Kaige: Ich war lange nicht hier. Berlin ist seither fast neu aufgebaut worden. Das ist ganz ähnlich wie in Peking und Schanghai. Vor allem die Architektur in den östlichen Stadtteilen gefällt mir.

Und was das Bewusstsein und die Art zu leben betrifft?

Das kann ich für Berlin nicht beurteilen, aber in China ist die Situation äußerst hart. Der Transfer vom Kommunismus in die Ökonomie des freien Marktes ist ein brutaler Prozess. Das gilt für den Einzelnen wie für die ganze Gesellschaft. Wir haben alles verloren, woran wir geglaubt haben, und sehen nichts Neues an spiritueller Kraft. Deutschland hat nach dem Krieg Identität gewonnen. In China sehe ich das nicht. Wie, frage ich mich, gleichen wir die gewaltige Zerstörung an Geist und Bewusstsein aus? Das Problem der kulturellen Leere ist unser großes Thema.

Ist sie ein neues Phänomen?

Sehen Sie, die alte Führung hat nie zugelassen, dass über die Kulturrevolution von 1967 offen diskutiert wird. Da ist eine große Lücke entstanden, die von neuen Problemen verdeckt wird. Die Opfer von damals sind noch da. Wir haben weder die Ereignisse aufgeklärt noch den Opfern Genugtuung verschafft. Das fehlt einfach. Wenn wir das ernsthaft getan hätten, wäre die chinesische Gesellschaft heute friedlicher. Davon bin ich überzeugt. Wir entwickeln uns positiv, in vieler Hinsicht, aber die Leute sind einfach nicht glücklich. Warum? Kann man sich mit Geld besser machen? Die Antwort ist nein. Mein Film „Xiaos Weg“ zeigt die Möglichkeit, eine Wahl zu treffen. Menschen können wählen, nicht nur mit Geld und Erfolg zu leben. Das ist wichtig.

Was bedeutet Ihnen die westliche klassische Musik?

Ich stamme aus einer Filmemacherfamilie. Ich hatte die Chance, mit ihr in Berührung zu kommen.

Auch mit der klassischen chinesischen Musik?

Ja, auch. Aber das ist eine ganz andere Kunstform, eine eher intellektuelle. Man spielt sie fast immer allein, und so funktioniert sie als Flucht aus der Gesellschaft. Die westliche klassische Musik hat eine enge Verbindung zu Religion und Kirche. Die großen Orchester kreieren einen gewaltigen Klangkörper und ein tiefes Gefühl der Gemeinsamkeit. Das ist der große Unterschied. Meine Eltern liebten diese Musik. Für mich ist sie eine große Chance, aus der Krise herauszukommen.

In Ihrem Film kommt der elfjährige Junge Xiao Chun (Tang Yun) mit seinem Vater (Liu Peiqi) als Geigenvirtuose aus der Provinz nach Peking und kann sofort mit einem großen Orchester spielen wie ein Star.

Sie wollen fragen, warum wir das so erzählen? Talente trainieren hart, das gilt in der Provinz wie überall. Aber wir haben das nicht gezeigt. Das ewige Üben ist eine ziemlich langweilige und trockene Angelegenheit. Der Vater erzählt dem Polizisten und dem ersten Geigenprofessor in Peking, dass sein Sohn jedes Jahr Preise gewonnen hat.

Die Kinder beginnen in China mit Gruppenunterricht?

Genau. Unser Talent hat das alles hinter sich. Wir haben intensive Lehrer-Schüler-Szenen gedreht zwischen Xiao Chun und seinem ersten Lehrer und zwischen Xiaos Konkurrentin Debao (Liu Bing) und mir in der Rolle des ehrgeizigen Professors Yu. Ich habe beim Schnitt entschieden, das alles rauszunehmen.

So wirkt die Geschichte vom Erfolgsweg Xiaos und seiner Entscheidung, zu seinem provinziellen Vater zurückzukehren, selbst wie große Oper.

Das gefällt mir. Ja, wir haben die Geschichte immer mehr verdichtet, um die Emotionen stark zu machen.

Vater und Sohn machen sich zusammen auf in die Stadt, der Vater tut alles für die Entdeckung und Förderung von Xiao. Spiegelt sich in dieser engen Beziehung etwas von der exemplarischen Ein-Kind-Familie in China?

Man hat sich im Westen viel mit der chinesischen Geburtenkontrolle beschäftigt. Die schlechte Botschaft war immer, dass die Behörden die Familien zwingen, nur ein Kind zu haben. Jetzt ist es anders. Die neue Generation in den Städten hat aus eigennützigem Interesse heraus keine Lust, mehr als ein Kind zu bekommen. Auf dem Land dagegen findet man viele Familein mit fünf oder sechs Kindern, obwohl die Regierung offiziell an ihrer Familienpolitik festhält. Das ist nicht so entfernt von der westlichen Kultur, wie man denkt.

Die westlichen Medienberichte produzieren manchmal ziemlich viele Missverständnisse. Sie betonen das Fremde, Andersartige an China. Umgekehrt empfinden die Chinesen den Westen weitaus weniger fremd.

In Ihrem Film verliebt sich der Junge in Lili [Chen Hong, die Frau von Chen Kaige], eine allein lebende junge Frau mit Handy, modischem Outfit und undurchschaubaren Liebhabern.

Prostitution ist in China verboten, aber offensichtlich ist diese junge Frau ein Callgirl. Wir wollten kein Zensurproblem schaffen, deshalb haben wir es vorsichtig inszeniert. Das Handy spielt eine große Rolle. Wussten Sie, dass 200 Millionen Chinesen bereits ein Handy besitzen? Ich finde das krank. Dieses Mädchen verkörpert die moderne Entwicklung. Aber mir kam es auf die Beziehung zwischen der alten und der neuen Welt an, auf die mögliche emotionale Verbindung zwischen beiden.

Sie lebt sehr isoliert. Die Gittertür vor ihrer Neubauwohnung verstärkt noch den Eindruck.

Es gab einen langen Dialog zwischen Xiaos Vater und ihr im Rohschnitt. Da erzählt sie, dass sie auch aus der Provinz stammt und seit der Scheidung der Eltern allein lebt. Am Ende war mir das zu lang.

Haben Sie an Originalschauplätzen gedreht?

Wir haben in Peking gedreht. Den Filmanfang, das Dorf am Wasser, haben wir in der Nähe von Schanghai gedreht. Das ist ein typisches Ostküstendorf. Nur die etwas verschluderte Wohnhöhle des ersten Geigenprofessors von Xiao, Jiang (Wang Zhiwen), haben wir nachgebaut, um besser zeigen zu können, wie Xiao sich in der vertrauten Umgebung bewegt und sich langsam von diesem Lebensstil löst.

Ist Xiaos Geschichte Ihre Botschaft von einem Weg zum künstlerischen Erfolg, der die eigenen Wurzeln nicht verdrängt?

Der Junge erkennt, dass er durch Konkurrenz und Betrug zum Erfolg gedrängt werden soll. Darauf reagiert er sehr persönlich, indem er zum Bahnhof läuft und den Vater sucht. Ich habe eine starke Lösung gesucht. Bei mir bleibt das Ende offen. Jeder kann für sich entscheiden, ob Xiao ein Star wird. Ich finde, was die Vater-Sohn-Geschichte angeht, hat mein Film viel zu tun mit „Billy Elliott – I will dance“.

„Xiaos Weg“. Regie: Chen Kaige. Mit Tang Yun, Liu Peigi u. a. China/Südkorea 2002, 116 Minuten