Erfurt war kein Zufall

Politiker haben jahrelang die Gefahr verniedlicht, die von Computerspielen für unsere Jugend ausgeht. Noch heute leiden Betroffene an den Folgen ihrer ehemaligen Spielsucht

von JAN BRANDT

Seit dem 1. April leide ich an Albträumen. Nicht weil „Tetris“ oder „Pacman“ wegen der fehlenden Altersempfehlung auf dem Index stehen. Das neue Jugendschutzgesetz, das an diesem Tag in Kraft trat, erinnert mich vielmehr an meine Jugend, an all die verpassten Möglichkeiten, etwas aus sich zu machen, statt tagelang vor dem Computer zu sitzen. Ich habe bis heute versucht, den Gedanken daran zu verdrängen. Aber es gelingt mir nicht. Wäre das neue Gesetz eher in Kraft getreten wäre, hätte mein Leben eine völlig andere Entwicklung genommen.

So aber war mein Scheitern vorprogrammiert. Meine Eltern machten es mir ziemlich einfach. Den Kauf des C64 konnte ich als 12-Jähriger dadurch rechtfertigen, dass ich ihnen erzählte, in der Schule würden jetzt alle mit einem Rechner arbeiten. Sie sahen mich skeptisch an und verlangten von mir, den Computer von meinem Taschengeld zu bezahlen. Aus pädagogischen Erwägungen hielten sie es zudem für ratsam, meine Forderung mit der Auflage zu verknüpfen, dass ich gleichzeitig Akkordeon spielen lernte. Jeden Tag sollte ich den Schneewalzer üben.

Zum Glück bildete der Schneewalzer den Soundtrack einer Kopiersoftware. Immer wenn mein Vater an der Tür lauschte, kopierte ich illegal die Spiele, die mir meine Klassenkameraden am Morgen in der Schule mitgegeben hatten. Abends beim Essen lobte mein Vater meine Disziplin, meinte aber, dass es für seinen Geschmack ein wenig zu „piepsig“ klinge. Um ihn zu beruhigen, versprach ich, noch fleißiger zu sein, und bat ihn, mich in den Nachmittagsstunden nicht mehr zu stören. „Die größten Werke entstehen in absoluter Abgeschiedenheit“, sagte ich.

Das verstanden meine Eltern und stellten mich von den Rasenmäh- und Autowaschpflichten frei. Nicht nur meine künstlerische Karriere wurde durch Computerspiele zunichte gemacht, auch meine nicht unberechtigte Hoffnung, als Fußballprofi gefeiert zu werden, erhielt durch das Jump-and-Run-Spiel „Wonderboy“ einen empfindlichen Dämpfer. Ich entschied mich, meine Laufeinheiten auf dem Bildschirm zu simulieren und erst zum Training zu erschienen, wenn die Aufwärmübungen vorüber waren. Mein Trainer förderte mein Hobby, in dem er mich am Wochenende bei Punktspielen auf der Ersatzbank Platz nehmen ließ, wo ich auf dem Gameboy, wie er sagte, „an meiner Technik feilen“ konnte.

Mitschuld der Lehrer

Im Frühjahr 1989 spitzte sich meine Lage dramtisch zu. Mein Mathelehrer stimmte mit meinem Lateinlehrer darin überein, dass nach einigen mit „ungenügend“ und „mangelhaft“ bewerteten Klausuren meine Versetzung nicht sehr wahrscheinlich sei. Trotzdem wollten sie die Hoffnung nicht aufgeben. Der eine sagte, ich müsse jetzt endlich „das Ruder herumreißen“, und der andere schrieb mir ins Klassenheft: „Kraut und Rüben! Die Pronomina tanzen dir auf dem Kopf herum. Da hilft nur eins: wiederholen, bis du jede Vokabel besser kannst als deinen Vornamen.“

Nun hatten zwar beide an Ansehen verloren, als sie zusammen am Bahnhof unserer Kleinstadt dabei beobachtet worden waren, wie sie einfahrende Züge fotografierten und am Kiosk heimlich in Eisenbahnzeitschriften blätterten. Immerhin aber gaben sie den Anstoß, meine Leidenschaft publizistisch auszuschlachten. Mit einem Freund gründete ich im kulturellen Underground Ostfrieslands eine Computerzeitschrift, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen sollte. Wir nannten sie zunächst „A ÄTZ M – Aktuelle Software für ätzende Spiele auf dem Markt“.

Später, als wir merkten, dass unser Ansatz zu destruktiv war, tauften wir sie in „MSN – Megapower Software News“ um. (Ich ärgere mich heute, dass ich mir die Abkürzung nicht schützen ließ. Microsoft Network hätte sich für www.msn.com dumm und dämlich zahlen müssen.) Die Zeitschrift bestand vor allem aus geklauten Kurzkritiken. Nur die Leitartikel verfassten wir selbst. Rezensionen aus der C64er oder ASM – Aktueller Software Markt tippten wir auf einer alten Olympia-Schreibmaschine ab, setzten unseren Namen darunter und fotokopierten das Ganze vier- bis fünfmal.

Wir hatten eine enge Leserbindung. Lange vor dem April 2002 in Erfurt waren wir uns des Gewaltpotenzials von Computerspielen bewusst und behandelten das Thema ausführlich in einem A ÄTZ M-Spezial (10/89) mit dem Titel „Lebensgefahr am Computer“. Es handelte sich um einen auf eigenen Erfahrungen basierenden Fall von Autoaggression, der vor allem durch vermeintlich harmlose Spiele ausgelöst wurde, wie ein Blick ins Verlagsarchiv belegt: „Ist der Computer wirklich sicher?! Wie sieht der Impfstoff aus? Mit diesen Fragen mussten wir uns beschäftigen, da wir selbst mit knapper Not davonkamen, als wir das Golfspiel ‚World Class Leaderboard‘ spielten. Immer wenn einer aus der Redaktion den Ball verschlagen hatte, rief er wild: ‚Das darf doch nicht wahr sein!‘ Dabei fasste er sich an den Kopf und lief ganz rot an, sodass wir anderen befürchten mussten, seine Halsschlagader würde platzen. Wir waren ratlos. Wie konnten wir dieser Gefahr entrinnen? PS: Die Halsschlagaderkrankheit, kurz HSAK, breitete sich bald in der ganzen Redaktion aus. Deshalb verlangen wir ein sofortiges Verbot.“

Um unserer Forderung Nachdruck zu verleihen, führten wir Statistiken an, die von keinem Bundesamt abgesegnet worden waren: „Nach geheimen Informationen sind Jugendliche, die auf Computerspiele nicht mehr ruhig reagieren können, selbstmordgefährdet. Im Gegensatz zum Jahr 1987, wo nur 14 % aller Jugendlichen vor ihrem Computer starben, sind es bis zum 1. 09. 89 bereits 37 % gewesen. 1989 starben allein 17 % der Jugendlichen bei dem Spiel World Class Leaderboard.“ Und in einem fiktiven Text beschrieben wir den besonders aufsehenerregenden Fall des achtzehnjährigen Klaus P. aus Berlin: „Augenzeugenberichten zufolge spielte er World Class Leaderboard. Als er bei Loch 13 aus 17 Inches Entfernung den Ball nicht einlochen konnte, regte er sich so stark auf, dass er sein ganzes Blut in den Kopf drückte und keine Luft holte. Dabei platzte die Halsschlagader, und er verblutete. Zuvor soll er aber noch so laut geschrien haben, dass ihm auch die Stimmbänder platzten. Dazu sein ehemaliger Freund: „Ick war natürlich jeschockt und hab erst ’ne Woche später den Krankenwagen jerufen. Der Idiot hat mir die janze Tapete voll jeblutet. Wenn ick dett bei ihm jetan hätte, dann würde ick hier jetzt nicht stehen und Ihnen erzählen, wie es wirklich war.“

Kurz darauf begann ich mich für Doktorspiele zu interessieren.

janbra2000@hotmail.com