„Die Leute hier passen zu meinem Vater“

Sohn Peter Marcuse findet, dass sein Vater auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in guter Nachbarschaft mit Hegel, Brecht und Eisler liegt

Herr Marcuse, heute wird die Urne Ihres Vaters in Berlin auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beigesetzt. Warum?

Peter Marcuse: Ein Student hat mich vor Jahren gefragt, wo mein Vater eigentlich begraben ist. Ich habe gesagt: Ich glaube, die Urne steht in einem Bestattungsinstitut in New Haven. Die nächste Frage war, ob sie dort ewig stehen soll. So kamen wir auf die Idee, etwas zu suchen, was besser zu meinen Vater passt.

Warum Berlin?

Weil dies der wichtigste Ort im Leben meines Vaters war. Wir hätten ihn auch in San Diego oder in New York bestatten können. Aber auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof sind Leute beerdigt, die zu meinem Vater passen.

Hegel beispielsweise.

Ja, ja, vor allem aber die Emigranten Brecht und Hanns Eisler. Und er bekommt ein Ehrengrab. Ich finde das in dem Land, aus dem er vertrieben wurde, nur gerecht.

Herbert Marcuse hat immer Wert darauf gelegt, dass sein Privatleben vor öffentlichen Blicken geschützt bleibt.

Durchaus. Er fand, dass es niemanden etwas angeht, was er zu Hause tut oder wer seine Freunde sind. Andererseits war er der Überzeugung, dass es zwischen dem Persönlichen und dem Sozialen eine enge Beziehung gibt. Er hat immer Brecht zitiert: „Ein Mensch, der eine gute Zigarre nicht zu schätzen weiß, hat auch kein Recht, die Revolution zu machen.“ In diesem Sinne ist das Persönliche auch politisch. Andererseits gibt es Journalisten, die gerne mit mir zu der Schule gehen möchten, die Herbert in Berlin besuchte. Ich finde, das geht ein bisschen zu weit ins Private.

Ihr Vater war nicht religiös. Aber hätte er Wert gelegt auf ein jüdisches Begräbnis und auf ein Kaddisch?

Wir haben darüber geredet, ob es heute ein Kaddisch geben sollte. Aber die Meinung in der Familie war: nein.

Und 1979, als er gestorben ist?

Nein, damals auch nicht. Erica, seine dritte Frau, hat sich für religiöse Dinge interessiert. Ich erinnere mich, dass wir – da waren mein Sohn und seine Frau, Jürgen Habermas und seine Frau und Tilman Spengler dabei – uns in einem Wald bei Starnberg in einem Kreis versammelt haben, ihm zum Gedenken. Aber ein Kaddisch? Nein.

Habermas hat kürzlich gesagt, dass der späte Marcuse, also der Autor von „Der eindimensionale Mensch“, in den Grundzügen Recht gehabt hat. Teilen Sie diese Einschätzung? Ist das Buch auch 35 Jahre später noch aktuell?

Ich meine ja. Wo ist der grundlegende Unterschied in der Gesellschaft zwischen Mitte der 60er-Jahre und heute? Es gibt auch heute, gerade nach dem 11. September, autoritäre Tendenzen in den USA. Denken Sie an die Einschränkung der Bürgerrechte, die wir unter George W. Bush erlebt haben. Oder den Krieg gegen den Irak. Oder die Steuerreform zugunsten der Reichen.

Bush ist das eine, die andere Frage ist, ob das Autoritäre aus der gesellschaftlichen Struktur notwendig hervorgeht.

Ich denke, es gehört zusammen. So wie nach dem 11. September viel passiert ist, was zuvor schon geplant war. Bush hat die Chance genutzt, die der 11. September, das Bedürfnis nach mehr Sicherheit, geboten hat.

Sehen Sie denn aktuell Kräfte, die diesen Tendenzen entgegenwirken?

Ja, ich habe mich ja in der globalisierungskritischen Bewegung engagiert. Und ich glaube auch, dass mein Vater, würde er heute politische Analysen verfassen, sich nahe an den Ideen der Globalisierungskritik bewegen würde.

Ist der Backlash durch den 11. September eine fundamentale Verschiebung – oder ein Phänomen, das wieder verschwinden wird? Werden wir also in fünf Jahren, was etwa die Bürgerrechte angeht, wieder am 10. September 2001 ankommen?

Es gibt offenkundig einen Schwenk nach rechts. Einen Irakkrieg ohne UNO und ohne plausible Begründung hätte es ohne den 11. September nicht gegeben. Ich glaube aber nicht, dass eine neue Stufe des kapitalistischen Systems erreicht ist. Bush hat Tendenzen, die es schon früher gab, intensiviert. Deshalb kann man durchaus wieder am 10. September ankommen.

INTERVIEW: STEFAN REINECKE,
CHRISTIAN SEMLER