Der Architekt der Architekten

Vitra Design rekonstruiert auf seinem Werksgelände eine Tankstelle des Pioniers des industriellen Bauens Jean Prouvé

„In Jean Prouvé vereinigen sich Architekt und Ingenieur, richtiger noch, Architekt und Baumeister, denn alles, was er anfasst und gestaltet, bekommt sofort eine elegante und plastische Form, mit glänzend verwirklichten Lösungen in Bezug auf Haltbarkeit und industrielle Fertigung.“ Auf Augenhöhe beurteilte Le Corbusier die Arbeit des Kollegen, der nicht einmal Architekt war – aber ein großer Entwerfer und Konstrukteur. Doch nicht nur Le Corbusier bewunderte ihn, auch Renzo Piano, Richard Rogers, Norman Forster und Jean Nouvel rechnen ihn zu ihren Vorbildern. Der Stuttgarter Architekt und ehemalige Hochschullehrer Peter Sulzer legt inzwischen beim Birkhäuser Verlag das komplette Werkverzeichnis Jean Prouvés vor.

Der ausgebildete Kunstschlosser, 1901 in Paris geboren und 1984 in Nancy gestorben, kann als der große europäische Gegenspieler von Charles und Ray Eames gelten. Neben ihnen zählt er zu den bedeutenden Möbelkonstrukteuren des 20. Jahrhunderts und wie beim Ehepaar Eames war sein Schaffen breit gefächert: Sein Oeuvre umfasst Entwürfe vom Brieföffner angefangen über Tür- und Fensterbeschläge sowie Leuchten bis hin zu vorgefertigten Architekturmodulen in Leichtbauweise aus Metall und Aluminium. Prouvé gilt heute als einer wichtigsten Pioniere der Serienfertigung von Möbeln und der Industrialisierung des Bauens.

Ein Beispiel dafür ist die 1951 von Prouvé gemeinsam mit seinem Bruder Henry entworfene Tankstelle für die Firma Socony-Vacuum/Mobiloil. Sechs dieser Serientankstellen wurden realisiert, drei überlebten bis zum heutigen Tag. Eine dieser Tankstellen konnte nun von der Firma Vitra erworben und erst kürzlich auf ihrem Werksgelände in Weil am Rhein wieder aufgebaut werden. Die Tankstelle, die in den „Ateliers Jean Prouvé SA“ entwickelt wurde, dem Konstruktionsbüro des Architekten, zeichnet sich durch die deutliche Trennung von Tragwerk und Wandaufbau aus, ein für Prouvé typisches Vorgehen, das hier durch die weiße, grüne und rote Lackierung der wie in einem Metallbaukasten miteinander verbundenen Teile noch unterstützt wird. So erreichte er auch problemlos die Wiedererkennbarkeit des Pavillonbaus im Sinne einer unverwechselbaren Markenkommunikation. Vitra legt seit einem Jahr drei Stühle, fünf Tische und eine Leuchte von Prouvé wieder auf und engagiert sich dezidiert für das Werk des Franzosen. Zu seiner Wiederentdeckung trug die Firma vor allem dadurch bei, dass sie ihn – ebenso richtig wie marketingtechnisch geschickt – dem weithin bekannten kalifornischen Entwerferehepaar Ray und Charles Eames gegenüberstellte.

Während die Eames absolute Leichtigkeit und Reduktion suchten und mit Materialien wie Aluminium, Kunststoff und dreidimensional verformten Holz arbeiteten, ist es bei Prouvé eine Ästhetik des Schweren und des auf den ersten Blick fast Ungestalteten, die auffällt. Besonderns bei seinen Tischen sticht das Puristische und fast Ungefällige hervor. Das trapezförmige Modell „Guéridon“ (1949/50) zum Beispiel erscheint wie ein großer schwarzer Körper, dessen Füße mit der Platte eine Einheit bilden. Bei Ray und Charles Eames ist ein Fuß dagegen immer ein Fuß. Er wird mit den anderen Teilen der Möbel erst zum Schluss zusammengefügt. Die Eames schauten generell stärker auf die Details und ihre Verbindungen, sie arbeiteten mit der Sprache der Collage. Nur scheinbar aber sind ihre Entwürfe die moderneren, weshalb auch Prouvé in seiner reduzierten Formensprache wieder entdeckt wird. Rolf Fehlbaum, Chef von Vitra, glaubt, dass Jean Prouvé die besten Tische des 20. Jahrhunderts gemacht hat: „In ihnen findet seine archaische Gestaltungsart, seine Ästhetik des Schweren eine ganz besonders überzeugende Anwendung.“ Was wie eine Befreiung angesichts des gegenwärtigen Design-Overkills wirkt. CHRISTINA HABERLIK