Sinkende Schatzinsel

Keine Autos, keine Gefängnisse, keine Fernseher und rundherum nur Meer. Sieben Monate hat Anke Richter auf einem Atoll gelebt. Ein Gespräch über Südseeidylle und Prügelstrafe

von SILKE BURMESTER

taz.mag: Frau Richter, wie klingt das Paradies?

Anke Richter: Es ist eine Mischung: Meeresrauschen, Vogelzwitschern, tokelauischer Singsang aus Reden und Lachen und das knirschende Geräusch, wenn man über den Korallenkies läuft.

Hört sich ja sehr idyllisch an – wie muss man sich das Miteinander auf dem Atoll Atafu vorstellen?

Alles findet in Gruppen statt, Individualismus wird nicht gelebt. Man fischt, tanzt, macht Sport, arbeitet – immer mit anderen. Keiner schert aus.

Das hat mir ein Gefühl von Nähe und Wärme gegeben, das ich so bisher kaum kannte. Der uralte Traum von der Kommune … allerdings ein christlicher Kommunismus, ständig wird gebetet, die Kirche regelt alles und bestimmt das Dorfleben.

Also ein kontrolliertes Paradies. Gibt es denn keine Privatsphäre?

Nein, jeder bekommt alles von allen mit. Das hat auch gute Seiten. Durch die starke soziale Kontrolle gibt es zum Beispiel weniger sexuelle Übergriffe auf Frauen als in vielen anderen Ländern. Wer allerdings die Nacht mit der Liebsten allein verbringen will und nicht im Raum, wo die zehnköpfige Familie mit Tanten und Omas schläft, der muss sich in die Latrinenhäuschen verziehen, die als Plumpsklos auf Stelzen über der Lagune stehen.

Apropos Latrinen – auf Atafu geht man gemeinsam aufs Klo?

Ja, aber ich habe gekniffen, obwohl es recht unterhaltsam sein soll. Frauen gehen gemeinsam mit anderen Frauen aufs Klo. Männer mit Männern. Man sitzt so rum, andere kommen dazu, und man quatscht und raucht. Auf dem Klo tauscht man die neuesten Informationen aus.

Wie in Kiel beim Friseur?

Genau. Die Latrinen werden auch „tokelauische Telefone“ genannt.

Und wie steht es mit der Wasserqualität?

Es gibt Scheißefresserfische, die werden aber nicht von den Fischern gefangen.

Wodurch unterscheidet sich Tokelau von anderen Aussteigerorten?

Es gibt keine Touristen. Die Überfahrt von Samoa aus dauert drei Tage, das Versorgungsschiff kommt nur alle drei Wochen. So etwas nimmt kein Urlauber auf sich. Also konnten wir keine Enklave mit anderen Ausländern bilden, sondern lebten mit den Einheimischen.

Welches ist die wichtigste Fertigkeit, die Sie erlernen mussten?

Dass nicht alles organisierbar und perfekt machbar ist. Wir mussten lernen, dass unsere Vorstellungen davon, wie etwas zu funktionieren hat, nicht greifen. Wenn ein Fest für zwei Uhr angesetzt ist, dann trifft man sich gegen vier.

Außerdem hilft es, improvisieren zu können: aus Weetabix Kuchen zu backen zum Beispiel oder aus einem alten Rock eine Kinderhose zu nähen.

Was kauft man im Dorfshop?

Man hat die Wahl zwischen Fruchtkonservendosen, deren Haltbarkeitsdatum meist abgelaufen ist, ein paar tiefgefrorenen, fetten Fleischstücken aus Amerika und einigen angefaulten Eiern. Mit Glück gibt es manchmal Zwiebeln. Äpfel sind eine Seltenheit. Mehl und Reis dagegen häufiger. Und dazu Fisch, Fisch, Fisch – in Unmengen und umsonst.

Sie beschreiben in Ihrem Buch über Tokelau die Gesellschaft als „urkommunistisch“. Was meinen Sie damit?

Das ist nicht politisch zu sehen. Tokelau hat nie einem sozialistischen Block angehört. Doch hier gilt: Nicht das Individuum zählt. Und so wird das, was Meer und Bäume hergeben, der Fisch, die Kokosnüsse, die Brotfrucht, nach dem Inati-System unter allen aufgeteilt. Dieses System regelt, dass alle genug bekommen, aber auch, dass dem Pastor das beste Stück Fisch zusteht.

Tokelau ist die letzte neuseeländische Kolonie und wird finanziell unterstützt. Hat das Geld das Miteinander verändert?

Ohne diese Subventionen könnten die Tokelauer kaum überleben, aber gleichzeitig verhindern sie, dass man sich neue Märkte – zum Beispiel durch Thunfischverkauf ins Ausland – erschließt. Tokelau ist eines der letzten Länder der Erde, wo Kapitalismus im Sinne von Geld und Handel angekommen ist. Jetzt gibt es Workshops, um den Tokelauern zu zeigen, wie sie kleine Läden aufziehen können.

Was bedeutet das für die Inseln?

Meiner Einschätzung nach ist es das Ende des Inati-Systems. Diejenigen, die mit einen kleinen Shop, als Angestellter der Telefongesellschaft oder als Lehrer Geld verdienen, hören auf, fischen zu gehen. Der Fang wird aber trotzdem weiterhin mit ihnen geteilt. Das schafft Ungleichheit.

Hat das Kollektivgefühl – nach unserem Dafürhalten – auch Grenzen?

Es gibt einen ungeheuren sozialen Druck, alles mitzumachen und dabei zu sein. Seine Meinung deutlich vertreten, eine ganz eigenständige Persönlichkeit sein, das ist überhaupt nicht angesagt. Es geht darum, Teil der Gruppe zu sein.

Wie wird es sanktioniert, wenn man sich entzieht?

Man wird vom Ältestenrat zur Rede gestellt und muss Strafe zahlen. Etwa wenn man beim Kricket nicht mitmacht, aber auch wenn man bei einer Affäre erwischt wurde. Alles Private ist öffentlich. Viele halten das nicht aus.

Mehrere Jugendliche haben sich in den letzten Jahren umgebracht – wa rum?

Durch Bilder der Welt draußen wie Videos zum Beispiel – Fernsehen gibt es ja nicht – geraten junge Tokelauer immer mehr in Konflikt mit den strengen Regeln zu Hause.

Während unseres Aufenthalts brachte sich ein 14-jähriges Mädchen von der Nachbarinsel um, das von seinen Eltern furchtbar verprügelt worden war. Die Prügelstrafe ist leider elementarer Teil der Erziehung. Ganz im Einklang mit der Bibelauslegung …

Welche Bedeutung hat Jugend in der Gesellschaft?

Das ist ganz anders als bei uns: Je älter du bist, desto mehr hast du zu sagen. Kinder und Teenager haben angepasst zu sein und den Mund zu halten. Auch in der Schule. Sie müssen lernen, gute, bibelfeste Tokelauer zu werden und tokelauisches Wissen zu verinnerlichen. Sie haben keine Möglichkeit, zu rebellieren.

In Tokelau hast du kein alternatives Lebensmodell, keine Jugendgangs. Du kannst weder bei einer Punkband mitmachen noch in eine WG ziehen.

Ist es für Mädchen schwerer als für Jungen?

Sicher, weil sie nach einem christlich-konservativen Rollenbild moralisch erzogen werden. Dazu kommt, dass Unverheiratete keine Verhütungsmittel bekommen, es daher oft Teenagerschwangerschaften gibt. Verglichen mit vielen afrikanischen oder muslimischen Ländern wachsen die Mädchen jedoch sehr frei, gleichberechtigt und selbstbewusst auf.

Wie ist die Rolle der Frau?

Es gibt keinen regelrechten Machismo. Aber wie in allen traditionelleren Gesellschaften ist das Frauenbild ziemlich überaltert. Für mich war es gut, ein Kind zu haben und wieder schwanger zu sein. Sonst hätte ich den Mund nicht so weit aufmachen können. Je älter du bist, je mehr Kinder du hast, desto respektierter bist du.

An welchem Punkt haben Sie den Mund aufgemacht?

Als sich das Mädchen umbrachte. Da habe ich versucht, gegen diese Tragik und Grausamkeit anzugehen. Ob es etwas bewirkt hat, wage ich nicht zu beurteilen. Vielleicht gehört es auch zur Höflichkeit der Tokelauer, mir in meinem Engagement gegen die Prügelstrafe Recht zu geben – und insgeheim zu denken: „Hoffentlich ist sie bald weg!“

Und wie ist Sam einzuordnen? Sie beschreiben ihn in Ihrem Bericht wie die Klischeevorstellung einer Tunte …

Dazu muss man wissen: In der polynesischen Kultur sind Transvestiten ein Teil der Gesellschaft. Traditionell musste zum Beispiel in Samoa früher in jeder Familie ein Junge eine „Fahafina“, eine „Mannfrau“, werden. Die sieht man heute hübsch zurechtgemacht in vielen Servicebereichen wie Hotels und teuren Läden. Was Sam lebt, ist Teil der Kultur. Zunächst dachte ich: „Wow, sind die aufgeschlossen!“ Tatsächlich aber hat er seine klar definierte Rolle. Sicherlich macht man sich auch mal über ihn lustig, aber er wird doch voll akzeptiert. Er hat auch so seine Lover auf den Inseln Tokelaus. Nur als der Verdacht aufkam, er habe Aids, merkte man, dass das in so einer abgeschotteten Gesellschaft doch nicht so einfach ist. Da bist du schnell ziemlich einsam.

Sie haben am 11. September 2001 Ihre Rückreise angetreten …

Wir haben uns zuerst sehr auf westliche Zivilisation gefreut: aufs Kino, aufs Essen, auf neue Leute, frische Klamotten. Aber als wir erfuhren, was in New York passiert war, als wir die E-Mails von Freunden bekamen, die sagten, bleibt bloß, wo ihr seid, da wussten wir, dass wir eine heile Welt verlassen und in eine kaputte, kranke Welt zurückkehren. Nie waren wir an einem richtigeren Ort als an diesem letzten Tag. Am 11. September ging es in Tokelau einzig darum, dass das Versorgungsschiff an dem Morgen auf Grund gelaufen und leck war. Damit war der Kontakt zur Außenwelt für die nächsten Wochen abgebrochen. Eine Katastrophe.

Und jetzt ziehen Sie mit Sack und Pack nach Neuseeland?

Ich merke noch immer, wie entwurzelt ich auf Atafu war und wie sehr ich meine Kultur vermisst habe. Gleichzeitig bin ich aber dankbar für all das, was ich von den Menschen dort gelernt habe. Ich glaube, Neuseeland ist der Versuch, diese beiden Welten zu vereinen.

SILKE BURMESTER, 37, ist freie Journalistin und will von Hamburg-Ottensen nach Hamburg-Volksdorf aussteigen. Am liebsten in ein kleines Haus mit Garten