Offensive Friedenspolitik in der letzten Phase

Nach Tschetschenien werden jetzt auch Menschen in Inguschetien Opfer von „Säuberungen“ russischer Militärs

MOSKAU taz ■ Russische Militärs und Angehörige der moskautreuen tschetschenischen Milizen haben nach Berichten der Menschenrechtsorganisationen Memorial und Human Rights Watch (HRW) in den letzten Wochen auch in einigen Dörfern Inguschetiens, einer vom Krieg in Tschetschenien bisher verschonten Nachbarrepublik, satschistkas durchgeführt: pogromartige „Säuberungen“, bei denen Menschen verschwinden, ermordet oder später als Ware feilgeboten werden.

Ein Pogrom protokollierte Memorial im letzten Monatsbericht. Demnach feuerten Militärs im Juni in Arschty auf den Wagen des Bürgermeisters, weil dieser einer widerrechtlichen Säuberung beiwohnen wollte. Der Dorfbewohner Wacha Batajew wurde von Soldaten zusammengeschlagen und mit einem spitzen Gegenstand malträtiert. Danach raubten die Soldaten dieHäuser mehrerer Familien aus.

Umar Zabijew hat einen Überfall russischer Marodeure in Inguschetien nicht überlebt. Der junge Mann war mit seiner Mutter und Verwandten auf dem Rückweg von der Feldarbeit, als Militärangehörige den Wagen der Familie unter Beschuss nahmen. Der Wagen wurde getroffen und die Mutter schwer verletzt, ein Insasse versuchte, Hilfe zu holen. Umar blieb bei der Mutter. Als inguschetische Polizisten zu Hilfe kamen, war Umar verschwunden. Milizionäre entdeckten später ein Bein, das aus einem Sandhaufen herausragte. Ein Räumkommando zog den Leichnam heraus, der Brüche, Wunden, und Schussverletzungen aufwies. Es war die Leiche Umar Zabijews.

Die Maßnahmen der russischen Streitkräfte in Inguschetien künden von einer neuen Stufe der Eskalation. Bisher vergingen sich Militärs und Milizen vor allem an Flüchtlingen aus Tschetschenien, von denen noch etwa 100.000 in der Nachbarrepublik leben. Die Moskauer Marionettenregierung in Grosny versucht seit einem Jahr gewaltsam, die Flüchtlinge zur Rückkehr zu zwingen, um den Eindruck einer Normalisierung zu erwecken.

Bisher indes ohne nennenswerten Erfolg. Elizabeth Anderson von HRW wies darauf hin, dass die Militärstaatsanwälte es abgelehnt hätten, auch nur einen der oben beschriebenen Fälle strafrechtlich zu verfolgen. Und das, obwohl Mitarbeiter der lokalen Behörden darum gebeten hatten. „Wenn sich Willkür und Straflosigkeit so fortsetzen, haben wir in wenigen Monaten ein zweites Tschetschenien“, hieß es im Moskauer HRW-Büro.

Was Menschenrechtler für eine Gefahr halten, ist für den Kreml derplanmäßige Verlauf des Kaukasusfeldzuges. In einem dreiseitigen Empfehlungsschreiben an den Kreml hatte der für den russischen Südbezirk zuständige Supergouverneur von Präsident Putins Gnaden, Wiktor Kasanzew, im November 2001 einen mehrstufigen Plan vorgelegt. Der Exgeneral empfahl, den blutigen Konflikt bis spätestens 2003 nach Inguschetien auszudehnen.

Die anderen Punkte sind bereits erfüllt. Im ersten Schritt wurde der Republikchef Ruslan Auschew zum Rücktritt gezwungen, die zweite Maßnahme endete mit der erfolgreichen Inthronisierung eines moskaugenehmen Geheimdienstlers als Präsident. Moskau machte sich nicht einmal die Mühe, den Wahlbetrug im vorigen Frühjahr zu kaschieren. Kasanzew empfahl auch, die Flüchtlinge notfalls unter Anwendung von Gewalt zur Rückkehr zu zwingen und russischstämmige Kosaken in dem Gebiet anzusiedeln. Offensichtlich hat nun die letzte Phase der offensiven russischen Friedenspolitik im Kaukasus begonnen.

KLAUS-HELGE DONATH