Bleigewichte an den Schultern

Claude Chabrol nimmt die Provinzbourgeoisie unter die Lupe wie ein Ameisenforscher. In seinem jüngsten Film, „Die Blume des Bösen“, liegen die niederen Instinkte der Figuren miteinander im Clinch. Und die Schande macht den Teppich schmutzig

von BIRGIT GLOMBITZA

Die Charpin-Vasseurs sind Kummer gewöhnt. Seit Generationen verbucht ihr Stammbaum mysteriöse Tode und Unfälle. Sie haben gelernt, Haltung zu bewahren, ihre zwischenmenschlichen Verluste und die eigenen moralischen Defekte mit Fassung und einer gehörigen Portion Fatalismus zu nehmen. Auf Schocks folgt ein Cognac, auf Beerdigungen Hochzeiten. Irgendwann haben die Nachkommen aufgehört nachzufragen. Irgendwann waren sie selbst mit dem eigenen Fortkommen beschäftigt. Bei den Charpin-Vasseurs hat man schließlich Übung darin, es sich in der Katastrophe und einem verzwickten Schuldgeflecht gemütlich zu machen.

Die Provinzbourgoisie, ihre gedeckelten Instinkte und vertuschten Taten sind seit mehr als vierzig Jahren das Terrain des Altmeisters Claude Chabrol. Legte er mit „Le Beau Serge“ 1958 auch den ersten Film der Novelle Vague vor, so wurde er doch erst in konventionelleren Kriminalstücken und der Obduktion des Großbürgertums richtig heimisch. Darin spiegelt sich weniger die Lust am Untergang einer Schicht oder die altlinke Prämisse nach der Politisierung des Privaten – auch wenn in „Die Blume des Bösen“ Ähnlichkeiten mit französischen Kommunalpolitikern nicht unbeabsichtigt sind – als vielmehr Chabrols gebrochenes Verhältnis zur eigenen Klasse. Die Präzision seiner Milieuschilderungen entspringt nicht dem Blick eines Gesellschaftsreformers. Es ist der Blick, eines Analytikers ohne Visionen, der gesellschaftliche Verhältnisse als naturgegeben behandelt. Wie ein Ameisenforscher, unter dessen Lupe die Effekte von Ordnung und Chaos evident werden.

„Die Blume des Bösen“ ist eine Familienchronik, die sich rückwärts erzählt. Irgendwo in der Vergangenheit, während der Vichy-Regierung und der Machenschaften der Kollaborateure, hat sie eines ihrer verwerflichsten Kapitel vorzuweisen, deren Effekte ihren Sprösslingen bis heute wie ein Fluch im Nacken sitzen. Und die jüngste Leiche liegt genauso da wie eine ihre Vorgängerinnen damals. Der Mund steht offen, in den Augen irrlichtert noch ein Staunen über so viel unvermuteten Widerstand. Die Kamera muss nicht lange nach ihr suchen. Begleitet von einem alten Chanson über Lug und Trug des Lebens schreitet sie elegant durch die Eingangshalle, dann die repräsentative Treppe hoch und durch die offen stehende Tür. Wie ein Besucher, der sich bestens bei den Gastgebern auskennt. Die Schande ist für diesen Gast kein in der Familiengruft verstautes Geheimnis. Sie liegt unverhüllt zu seinen Füßen und macht den Teppich dreckig.

Hinter der Fassade des Bürgertums liegen die niedersten Instinkte im Clinch. Da neidet Gérard (Bernard Le Coq) seiner Frau Anne (Nathalie Baye) die politische Karriere und steht bald im Verdacht, ihr den Wahlkampf um das Amt der Bürgermeisterin in Bordelais mit einem anonymen Pamphlet zu verderben, einer Schmierschrift, die über die langwierigen Vergehen der Familie, von Mord bis Unzucht, lästert. Gérard selbst ist ein einfältiger Lüstling, der in den Hinterzimmern seiner Apotheke eine offenherzige Dame nach der andern empfängt. Ein ungebrochener Egozentriker, der seinen Sohn aus erster Ehe, François (Benoît Magimel), nach längerem Amerika-Aufenthalt so ignorant am Flughafen empfängt, als handele es sich um einen Austauschschüler. Anne probt derweil ihre Volksnähe und zieht mit Wahlkampfempfehlungen und schlecht getarnter Gleichgültigkeit durch diverse Sozialwohnungen. Nur Michele (Mélanie Doutey), die Anne in die Ehe gebracht hat – eine fast schon klischeehafte Repräsentantin der niedlichen Französin –, kann sich Chabrols Zuneigung und seines altväterlichen Protektorats ganz sicher sein. Das braucht sie auch, denn ihre Liebe zu François trägt trotz ihrer unterschiedlichen Abstammung schwer am unausgesprochenen Inzestvorwurf. In der eigenen Familie hilft nur Tante Line (Suzanne Flon), das älteste Familienmitglied, dieser Verbindung auf die Sprünge. Die Tabus eines ignoranten Patriarchats haben aus ihr selbst erst ein Opfer, dann eine Täterin gemacht.

Neigte Chabrol früher gelegentlich zur Larmoyanz und verworrenen melodramatischen Zuspitzungen, scheint er in „Die Blume des Bösen“ mit der mokanten Nachsicht des Alters auf die kleineren Übel seiner Protagonisten zu schauen. Mit genussvollem Ekel registriert er ausgemachte Schweinereien, mit unverhohlenem Schaudern das Unverzeihliche. Den Jungen öffnet er den Weg ins Freie. Dem Leben der Eltern belässt er seine Schwere und hängt ihnen noch ein paar Bleigewichte an Schultern und Mundwinkeln dazu.

„Die Blume des Bösen“ ist keine Überraschung. Es ist eine „fröhliche griechische Tragödie“, wie Chabrol selbst sagt. Solide erzählt, genau beobachtet, elegant in der Dramaturgie der theatralen Auf- und Abgänge und von einer angenehm entspannten Routine. „Die Blume des Bösen“ ist ein „Chabrol“ ganz und gar.

„Die Blume des Bösen“, Regie: Claude Chabrol. Mit Benoît Magimel, Nathalie Baye, Suzanne Flon u. a., Frankreich 2003, 104 Minuten