Reisen macht bescheiden

Martin Walser zeigt sich als Handlungsreisender in eigener Sache und gibt sich zur Abwechslung altersweise und mild: Sein neues Buch „Meßmers Reisen“ ist eine Einübung in die Standpunktlosigkeit und ein Versuch, ohne Überzeugungen zu leben

„Meßmers Reisen“ fasst den Tod ins Auge, drängt zumindest zum Schweigen

von JÖRG MAGENAU

Reisen, wie Martin Walser es betreibt, hat nichts mit fröhlichen Urlaubsfahrten zu tun. Für ihn ist das Reisen Arbeit. „Jeder Reisetag ist ein Verbrechen“, notiert er zornig, denn er hat genug davon. Aber, milde melancholisch gestimmt, bekennt er auch: „Reisen, angewandte Trauer.“ Wer reist, fährt ins Leben hinaus und entfernt sich von sich selbst, seinen Sicherheiten und Gewissheiten. Aufnehmen, Wahrnehmen, offen sein: Reisen ist eine Einübung in die Standpunktlosigkeit. Der Reisende blickt aus dem Zugfenster hinaus in die Landschaft, betrachtet seine Mitreisenden, macht sich Notizen: „Nur noch mitschreiben kann ich. Ein Fahrtenschreiber bin ich, mehr nicht.“ Reisen macht bescheiden.

Es gab Zeiten in seinem Leben, in denen Martin Walser mehr unterwegs war als zu Hause. Ihn für den sesshaften, heimatverbundenen Provinzler vom Bodensee zu halten, wäre nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte sind Dienstreisen. Er ist ein Handlungsreisender in eigener Sache, ein Schriftsteller, der immer hart am Markt segelte. Lange Jahre war er auf Vorträge und Lesungen angewiesen, um die Familie zu ernähren. Weil er verkaufen musste, musste er sich sein Publikum erlesen. Von den Vertretern, jenen „Infanteristen des Wirtschaftswunders“, hat er einst viel gelernt und einen von ihnen zum Helden seines großen Romans „Halbzeit“ gemacht. Der Vertreter ist für ihn ein Bruder des Schriftstellers, weil er ebenso überflüssige Dinge anbietet. Wo erfährt man mehr über die eigene Überflüssigkeit als auf Reisen?

Mit „Meßmers Reisen“ knüpft Walser an „Meßmers Gedanken“ von 1985 an, jenen Prosaband, den er als „das Autobiografischste, was ich publiziert habe“, bezeichnete. Auch zeitlich kehrt er in die 80er-Jahre zurück. Seine Reisen führen ihn zunächst quer durch Deutschland, dann nach Los Angeles und schließlich wieder zurück in die Provinz, wo der Zug durch Bruchmühlbach-Miesau fährt. Meßmer, der Reisende, ist weniger Kunstfigur als bloß ein Vorwand: hauchdünne Fiktionalisierung, damit der Autor nicht völlig ungeschützt vors Publikum treten muss. Die Differenz zwischen Walser und Meßmer ist so gering, dass viele Notate – denn um ein Notizbuch handelt es sich – in Ich-Form gehalten sind. In anderen spricht Meßmer von sich in der dritten Person, aber nur, um ein wenig Distanz zu gewinnen zum eigenen Ich. Der autobiografische Hintergrund aber bleibt immer erkennbar. Am deutlichsten ist das im mittleren der drei Kapitel, das in den USA spielt. Die Erfahrungen als Gastprofessor in Kalifornien, die Walser 1985 in dem Roman „Brandung“ verarbeitete, werden hier gewissermaßen als Rohmaterial nachgereicht.

In „Meßmers Reisen“ findet man all die Themen, die Walser ein Leben lang umgetrieben haben, in kürzesten Verdichtungen wieder: Machtausübung und Abhängigkeiten aller Art, Kränkungen und Beleidigtsein, Geldverdienenmüssen und Schmerzempfindlichkeit, Liebe und Liebesmangel, Frauen, Ehe, Sex, Deutschland und das Leiden an der Vergangenheit und deutscher Schuld („Wer sich gegen Schuld nicht wehrt, empfindet sie nicht“), die deutsche Teilung als Skandalon, Nazis, die Öffentlichkeit, die „schmerzt wie ein Sonnenbrand“, und immer wieder und immer stärker die Sehnsucht, sich dem ganzen Betrieb ein für alle Mal zu entziehen. „Ohne Überzeugung leben“ notiert Walser als Utopie oder auch als Selbstschutzanleitung, erlebte man ihn doch immer wieder als einen, der sich von seinen Überzeugungen übermannen ließ, der wütete und kämpfte wie zuletzt mit seinem grell-derben Roman „Tod eines Kritikers“. Wie ein Süchtiger will er weg vom Meinen und vom Rechthaben und kommt doch nicht los davon. Nicht viel anders ist es mit der sexuellen Attraktion der Frauen. Walser würde am liebsten jede einzelne in ihrer Unvergleichlichkeit lieben. Grob diktiert er seinem Meßmer: „Das Geschlechtsteil der Frau ist das Einzige, das nichts eingebüßt hat von seinem Reiz, seiner Gewalt.“ Aber dann gilt bald auch wieder: „Nachher war er froh, dass er jetzt eine Zeit lang unbehelligt von dieser Biopflicht planen und denken konnte. Rasch, rasch etwas getan, bevor schon wieder aus den Marken des Leibes die Befehle zum dümmsten Dienst der Welt donnern.“

Als Aphorismen sollte man die Sätze, die da stehen, nicht bezeichnen. Sie produzieren weniger Wahrheiten und kalendertaugliche Sprüche als Stimmungen. Sie zielen nicht auf Ewigkeit, sondern sind in der Zeit notiert. Die Bombardierung von Tripolis durch die amerikanische Luftwaffe kommt vor und Ronald Reagan, der in Jeans den Hubschrauber besteigt, um ins Wochenende zu fliegen. Eine Fahrt mit dem Zug nach Berlin, als die Mauer noch steht. Es gibt keine Sätze außerhalb der Zeit. Und doch versucht Walser, sich einem idealen Schreiben anzunähern, das so unmittelbar sein müsste wie Musik. Natürlich ist das nie zu erreichen, weil jedes Wort voller Geschichte und Mitteilung steckt. Doch als Wunsch lässt es sich formulieren: eine Sprache, die nichts ist als Sprache, weil sie nichts transportieren muss. Sie soll Klang sein und ihre Bedeutung aus sich selbst heraus entwickeln. Wie in einer Komposition beziehen sich deshalb einzelne Sätze motivisch aufeinander. Sie antworten sich wie die Instrumente im Orchester. Einzeln sind sie oft banal und armselig, erst als Prozess gelesen bekommen sie ihren Schwung. „Husum ist weit. Das hätte ich wissen müssen“, lautet ein erster, harmloser Einsatz. Daraus folgt die Frage, die einen ganzen Abgrund öffnet: „Wie weit muss man fortfahren, um fort zu sein?“ Und schließlich, dann doch ein wenig sentenzhaft: „Die Welt ist eine Entfernungsmöglichkeit.“

Das Ziel all dieser Bewegungen ist eindeutig: Es ist der Stillstand. „Mit geschlossenen Augen schau ich aus dem Fenster“, heißt es am Ende. Da wird die Fahrt zur Allegorie auf das Leben, die Müdigkeit nimmt zu. Das Alter stellt sich ein, und dem ist wenig Erfreuliches abzugewinnen. Das Alter ist „die Lüge schlechthin“, der „Nachteil des Lebens“, ist „Niederlage“ und „Irrtum“. So bleibt dem Dichter nichts anderes übrig, als das eigene Vergehen zu feiern. Was sich nicht vermeiden lässt, muss solange besungen werden, bis es erträglich geworden ist. Das ist Walsers poetisches Credo, und also schwingt er sich lyrisch auf: „Es gibt keine Gründe gegen die Welt, was ist, hat Recht“. Der letzte Rechthaber ist unweigerlich der Tod. Meßmer spürt ihn schon: „Zum Gähnen benutzt der Tod meinen Mund.“ Er ahnt, wie das eigene Ende sein könnte: „Ein Andrang von allem und sofort. Eine Fülle zum Schluss. Wie nie zuvor. Den Schrei kultivieren, dass er sich anhört wie Gelächter. Belehrbar scheinen, das lohnt sich.“

So könnte man „Meßmers Reisen“ als eine Prosa des Abschiednehmens lesen. Es ist ein Buch über die Sehnsucht, sich zu entziehen und schließlich ganz einfach zu schweigen. Es fasst den Tod ins Auge oder drängt doch zumindest zum Schweigen. Auch der Schriftsteller, dessen Wortstrom ein Leben lang nie versiegte, hat vielleicht eines Tages genug gesagt. Sprache zielt ja doch immer haarscharf neben die Wirklichkeit. Auch das ist eine unüberwindliche Erfahrung. Also dimmt er den Text allmählich herunter, schließt die Augen und gibt sich zur Abwechslung einmal alterleise und sehr mild.

Martin Walser: „Meßmers Reisen“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003, 192 Seiten, 17,90 €