Rassismus ohne Rassisten

Wie in rassistisch grundierten Gesellschaften „Unglücksfälle“ provoziert werden: Ein Video, das zeigt, wie die Polizei gemeinsam mit Sanitätern und einem Notarzt einen Mauretanier vom Leben zum Tode beförderte, erschüttert Wien

Der tobende Schwarze erscheint dannals halbes Tier,das gebändigt gehört

Ein Schwarzer rastet aus, wird von der Polizei niedergerungen, erhält vom Notarzt eine Beruhigungsspritze, wird in bewegungsunfähiger Stellung gehalten. Es wurde ein voller Erfolg. Der Mann wird sich nie mehr bewegen. Er ist tot (siehe taz vom 23. 7.). Jetzt fragt man sich in Wien, wo sich dies zutrug, was all das mit Rassismus zu tun hat.

Der Fall ist ein Lehrbeispiel dafür, wie rassistische Akte ohne ausgewiesenen, ruppigen, vordergründigen Rassismus gesetzt werden – gewissermaßen für einen Rassismus ohne Rassisten. Denn wer wollte in unseren Breiten noch rassistisch sein? Nicht einmal die knorrigsten Rechtsradikalen behaupten noch die Unterlegenheit der anderen Rasse, sondern insistieren auf der kulturellen Andersheit des Fremden, um dann blauäugig nahe zu legen, bei so viel Differenz sei es wohl besser, jeder bliebe in seinem eigenen Revier. Selbst der Durchschnittspolizist sagt nicht mehr „Bimbo“.

Auch Cheibani W., der am Rande des Wiener Stadtparks zu Tode kam, ist nach allem, was wir wissen, wahrscheinlich nicht deshalb verstorben, weil Rassisten ihn absichtlich getötet oder seinen Tod billigend in Kauf genommen hätten; er wurde beamtshandelt, bis er tot war. Der Fall empört jetzt das Land, weil ein Anrainer die Szene auf Video aufgenommen hat. Das Band, am Montag im ORF-Fernsehen gezeigt, erinnert an den Fall Rodney King: Während Cheibani W. mit dem Tod rang, standen zwei Sanitäter mit vollem Gewicht auf seinem Körper, ein Arzt schaute, die Hände in den Hosentaschen, gelangweilt ins Leere.

Der Mauretanier ist nicht der Erste, der verstarb, weil er getobt hatte und amtlicherseits so lange beruhigt wurde, bis er für ewig ruhig war. Und doch stellt sich die Frage, warum es so oft Schwarze sind, deren Krankheiten bei Amtshandlungen eine letale Wendung nehmen? Handelt es sich dabei tatsächlich immer nur um „Unglücksfälle“? Das Beruhigende an der Rede vom „Unglück“ ist ja die behauptete Kontingenz, die unterstellte radikale Zufälligkeit. „Wenn man in Wien vom Tod eines Afrikaners hört, beginnt man sich genauer nach den Umständen zu erkundigen“, schreibt Armin Thurnher, Chefredakteur des Falter, dessen berühmter Investigator Florian Klenk den Mann mit dem Home-Video aufgetrieben hatte.

Was, wenn das kulturelle Bild vom Schwarzen, wie es immer noch tief im kollektiven Unbewussten unserer Gesellschaft sitzt, solche „Unglücksfälle“ provoziert, dem Pech gewissermaßen auf die Sprünge hilft? Man braucht nur die Bücher des zu Unrecht vergessenen – wenn nicht verfemten – Frantz Fanon, des Psychiaters und Theoretikers des Antikolonialismus, zu lesen, um zu resümieren, wie dem westlichen Weißen vor fünfzig Jahren der „Neger“ schien: unbekümmert, redselig, körperlich entspannt, niemals passiv, schamlos exhibitionistisch, von beschränkter Selbstkontrolle, instinktgetrieben, aufbrausend. Anders als „wir“. Hat sich, seit Fanon, an diesem Bild vom Schwarzen tatsächlich so viel geändert?

Dies ist deshalb für diesen Sachverhalt von Bedeutung, weil, vor der Folie dieses kulturell konstruierten Schwarzen, das „Toben“ eines psychisch kranken Schwarzen – etwa in einer Extremsituation – oder bloß auch ein recht alltägliches Aufbrausen, womöglich nicht immer als Folge einer Krankheit, eines Schubses oder Ähnlichem wahrgenommen wird, sondern als volkstypisches Verhalten eines „Wesens“, durchaus anders als „wir“ eben, dessen Tun seltsam, nicht immer erklärbar ist. Kurzum: Der tobende Schwarze erscheint, anders als uns kulturell vertrautere narrische Weiße, nicht als Kranker oder Sonderling oder bloß Erregter, der Hilfe braucht, sondern als halbes Tier, das gebändigt gehört.

Schon die Begegnung zwischen wohlwollenden Weißen und Schwarzen ist selten ohne innere Reserviertheit. Die Frage – sei sie auch unbewusst und eher vage im Kopf –: „Reagiert er so, wie ich an seiner Stelle auch reagieren würde?“ ist immer präsent. Sie erweist sich oft auch als scheinbar berechtigt: Denn er reagiert nicht wie ich und ich nicht wie er – weil er eben nicht an meiner Stelle ist und ich nicht an seiner. Er lebt in einer Gesellschaft, die ihm rassistisch begegnet, die ihn, wie Fanon schrieb, zum Neger macht. Fanon wollte tatsächlich „mit Hilfe von Tests“ ermitteln, „welche psychischen Veränderungen nach einem Monat Aufenthalt“ bei schwarzen Auswanderern aus den Kolonien auftreten, die nach Frankreich emigrierten. Auch wenn die koloniale Situation der Vergangenheit angehört, so hat sich am Grundproblem wenig geändert: Kaum ein Schwarzer, der nicht ständig rassistische Ressentiments zu spüren bekommt, der sich nicht in eine Position der Minderwertigkeit gedrängt fühlt. Es braucht ein bewundernswertes Maß an psychischer Stabilität, dies ohne tiefe Verletzungen zu überstehen.

Es ist also ein ebenso grotesker wie tragischer Zirkelschluss: Der Schwarze, zumal wenn er, wie häufig, in prekären materiellen und rechtlichen Umständen lebt, ist in unseren Gesellschaften psychisch schwer bedrängenden Verhältnissen ausgesetzt – und wenn er ausrastet, fühlen sich die Angehörigen der weißen Mehrheit in ihren Ressentiments bestätigt. Wenn diese Angehörigen der weißen Mehrheit einem solchen Schwarzen dann als Ärzte oder Sanitäter gegenübertreten, besteht – das haben uns graustichige bewegte Bilder nun gezeigt – ein Risiko für Leib und Leben; kommt die Polizei dazu, höchste Lebensgefahr.

Ein Unglück? Oder rassistische Tat? Darüber toben in Wien nun Schuldzuweisungen. „Die Polizei ist schuld“, heißt es bei der Rettung. „Die Rettung ist schuld“, bei der Polizei. „Institutioneller Rassismus“, beklagen die Communities der Schwarzen. „Kriminalisierung der Polizei“, tönt es aus der politischen Law-and-Order-Fraktion. Dabei zeigt der Fall Cheibani W., dass es in rassistisch grundierten Gesellschaften nicht einmal Rassisten im strengen Wortsinne bedarf, um dem Pech, das dann nie Zufall ist, eine breite Schneise zu öffnen.

ROBERT MISIK