Mutmaßungen über Donatella

Das Tolle ist, dass man aus allem im Leben eine Anekdote machen kann. Egal, wie weh es tut, wie peinlich oder langweilig es ist – jedes Erlebnis gerinnt früher oder später zu ein paar Sätzen, einer Geschichte, mit der man die Leute unterhalten kann. Deshalb wird auch dieser Abend zu etwas nütze sein, hofft Hanno, als er in den gläsernen Lift steigt und nach oben fährt

von MARTIN SCHACHT

Das arme Kind, wie es daliegt, verkrümmt, geschunden sein verletzlicher kleiner Körper! Und dann die blutigen High Heels, das gellende Lachen und die hasserfüllte Fratze dieser Frau, umrahmt von dünnen weißblonden Strähnen, die im Wind wehen und ihrem Antlitz etwas Medusenhaftes verleihen.

Das ist grauenhaft und abscheulich! Jemand muss diese Person aufhalten, bevor sie noch mehr Unheil anrichtet!

Immer wieder tritt sie mit den spitzen Metallabsätzen auf den leblosen Körper ein und gibt dabei ein gutturales Gurgeln von sich, das sich, als Hanno näher kommt, als Schimpfkanonade auf Italienisch entpuppt.

Jetzt hat sie ihn bemerkt, lässt von der Kleinen ab und nähert sich mit einem Fauchen, die Klauen mit den langen, künstlichen Fingernägeln gefährlich gespreizt.

„Porca puttana“, zischt sie ihn an, und man sieht nur noch das Weiße in ihren Augen. „Vaffanculo!“

Hanno tritt augenblicklich die Flucht an. Dabei rutscht er auf einer grell gemusterten, seidenen Tagesdecke aus, die achtlos auf der Marmortreppe zum Pool liegt, und fällt und fällt und fällt.

Es ist dunkel und still, das eiskalte Weltall, der ewige Schlaf, der Tod – ein Wimpernschlag in Raum und Zeit. Und dann: ein Piksen in seiner Seite.

Was ist los?“, fagt eine Stimme von weit her durch das Dunkel. „Geht’s dir nicht gut? Du hast geschrien, als sei der Leibhaftige hinter dir her.“

„Nicht der Leibhaftige, viel schlimmer. Ich habe schlecht geträumt“, murmelt er. „Donatella Versace hat ein Kind totgetrampelt.“

Hanno schiebt die Schlafbrille hoch, entfernt die Ohrstöpsel und blinzelt in den Morgen. Er liegt gefährlich nah am Bettrand, eine halbe Drehung noch und er wäre draußen.

Mühsam robbt er sich rüber zur Mitte, in Richtung der Hand und der Stimme und der daran hängenden Praktikantin, die vertraulich auf ihn zugerollt kommt. Er hofft inständig, dass sie jetzt nicht kuscheln will.

Schlafen unter einer Bettdecke geht für ihn schon seit längerem nicht mehr, Hanno bekommt bei nächtlichem Körperkontakt Schweißausbrüche und einen undefinierbaren Juckreiz.

Besonders schlimm ist die bei Frauen beliebte Löffelchenstellung, auch der morgendliche Austausch von Zärtlichkeiten wird ihm zunehmend unangenehm.

Doch die Praktikantin schlägt die beiden Decken übereinander und Hanno spürt die Wärme und das Wühlen und wie sich etwas – die Hand wieder, was sonst – unerbittlich auf ihn zuschiebt, um zielsicher in seiner Magengegend zu landen.

Hanno mag seinen Bauch nicht; er mag es auch nicht, wenn andere ihn mögen. Schlimmer noch: Er glaubt, dass sie nur so tun als ob, so wie man sich Rollstuhlfahrern gegenüber immer ganz unbefangen verhält, so als sei alles ganz normal, damit sie sich nicht behindert fühlen.

Hanno springt mit einem Satz, den man einem Mann seiner Körperfülle nicht zutrauen würde, aus dem Bett und legt sich ein schwarzweißes Versace-Badetuch in Hochflausch mit Mäanderrand um die Hüften.

„Das geht jetzt gar nicht“, sagt er unwillig. „Ich muss ins Büro. Wir haben unser Montagsmeeting. Da muss ich pünktlich sein.“ Der Termin ist zwar erst um eins, doch das weiß sie ja nicht.

„Aber“, hebt die Praktikantin an.

Aber was? Es war so schön mit uns? Wir könnten nochmal schnell?

„Aber … es ist doch deine Agentur.“

Darauf fällt Hanno erst einmal nichts ein.

Natürlich könnte er anrufen und alles verschieben. Hat er schließlich früher auch schon gemacht.

„Eben deshalb.“

Die Praktikantin sieht ihn an, als hätte er sie nicht mehr alle, und sucht ihre Sachen zusammen, während Hanno rasch im Bad verschwindet.

Er ist ganz schrumpeling geduscht, als sie nach einer langen Viertelstunde endlich geht, nicht ohne ihm durch die geschlossene Tür zuzurufen, dass er total gestört sei. Hanno tut, als habe er sie falsch verstanden.

„Ja super!“, ruft er fröhlich. Endlich fällt ihm ihr Name ein.

„War nett, Claudine. Wir sehen uns dann bald mal!“

Alles Dreck! Nur die Russenmafia trägt Versace und thailändische Nutten tragen Versace-Fakes aus Bangkok!

Immer wieder Animal Print und Medusenhäupter. Sind Logos nicht total out, ist das Versace-Logo nicht total out?

Ist das noch Nineties oder eher sogar Eighties? Und wenn es Eighties ist, ist es dann noch oder schon wieder in oder gerade vorbei?

Die Achtzigerjahre waren Gold und Schwarz und breite Schultern, die Neunziger eine Melange aus Techno, neuer Bescheidenheit und Internetblase. Aber wie definiert man die Nullerjahre oder wie sie heißen?

Fassen Sie die nächsten drei Jahre in einem Satz für Kunden zusammen. Hanno hat es oft genug auf den Punkt bringen müssen, aber jetzt fällt ihm nichts mehr ein. Und wieso träumt ein Mensch von Donatella Versace? Das hat etwas zu bedeuten. Warum die plötzliche Obsession mit dieser Frau? Irgendwas ist vorgegangen, irgendwas hat sich verändert an Donatella.

Hanno muss ständig über sie nachdenken, seit er in der Gala eine Home Story von ihrem Haus am Comer See gesehen hat.

Da war, zwischen all dem überladenen Chichi, den Statuen, den Kordeln, Troddeln, den Seidenkissen und Venini-Vasen, doch tatsächlich Donatella Versace in einem Badeanzug zu sehen.

In einem Badeanzug! Vielleicht wollte sie beweisen, dass es sie wirklich gibt, mit einem Körper, den man berühren kann und der irgendwas empfindet wie Blähungen oder Hunger, nicht nur dieses von allem abgekoppelte, beileibe nicht sehr anziehende Gesicht, das es neuerdings sogar, eingerahmt von Arabesken, auf T-Shirts zu kaufen gibt.

Entweder ist die Frau komplett größenwahnsinnig oder sie hat Sinn für Humor.

Dieses Gesicht auf einem T-Shirt! Wer soll so was anziehen, außer ein paar durchgeknallten Schwulen?

Alles, was es früher von Donatella in der Presse zu sehen gab, war der Kopf.

Hanno hatte sich dazu einen plumpen, kleinen Körper vorgestellt, umhüllt von weiten Glitzerkaftanen, ganz Kopf, die Frau, und verbissener Ehrgeiz, und jetzt steht sie da, zierlich, winzig und verletzlich, so als hätte man den Kopf einfach auf einen falschen Körper geschraubt, so als wolle sie sagen: Da bin ich, ich kann nicht nur Puff Daddy, pardon P. Diddy, J Lo, Elton und Madonna anziehen, ich bin eine Frau!

Natürlich zu Tode retuschiert das Ganze, der Körper wirkt wie geairbrusht, aber immerhin. Es ist das, was Donatella Versace sich unter echt und natürlich vorstellt.

Aber warum stellt sich eine erfolgreiche Modedesignerin halb nackt in der Gala aus? Verbirgt sich dahinter eine neue Marketingstrategie? Will sie sagen: Auch wenn du dir nur einen Badeanzug aus meiner Kollektion leisten kannst, bist du dabei? Hat sie einen neuen Fitnesstrainer und will zeigen, dass man auch noch mit fünfzig eine gute Figur haben kann? Oder will sie einfach nur sagen: Hab mich lieb?

Donatella Versace ist alles zuzutrauen, und Hanno kann es egal sein. Schließlich arbeitet er nicht mit ihr. Leider, muss man sagen, denn das Luxussegment boomt. Wer sein Geld rechtzeitig in LMVH-Aktien angelegt hat, ist ein gemachter Mann.

Aber angesagt ist Luxus auch nicht, ebenso wenig wie Understatement, Vintage, Strass, der Islam, Sushi, Neonfarben, Inline-Skaten, die SPD, der Krieg oder Mariah Carey. Was für eine Zeit! Die ewigen Wahrheiten, dass In-Sein in ist und out ist, was man kennt, haben ihre Gültigkeit verloren. Vielleicht geht es wirklich wieder mehr um Inhalte? Man sollte das mal so in den Raum stellen.

Dann ist nicht das Produkt schuld, sondern die Stimmung.

Hanno dreht sich der Kopf, und dann kommt es ihm. Er hat es! Das klingt gut! Das kann man verkaufen! Das ist Devise! Das Gefühl der beginnenden Nullerjahre, zusammengefasst in nur drei Worten, heißt: Alles ist out!

MARTIN SCHACHT, geboren 1965 in Rendsburg, lebt seit 1984 in Berlin – zwischen Schöneberg, Mitte und Kreuzberg. Sein am 1. August erscheinender Roman „Straßen der Sehnsucht“ ( Rowohlt Verlag, Reinbek 2003, 192 Seiten, 12 Euro), von dem wir hier die Anfangssätze sowie das vierte Kapitel abgedruckt haben, ist thematisch die Fortsetzung seines ersten Werks. Das Szenevolk, das Schacht in „Mittendrin. Berlinroman“ ( Rowohlt Verlag, Reinbek 2002, 218 Seiten, 12 Euro) durch die Werbeagenturen, Medienbetriebe und auf Partys begleitet hat, ist in diesem neuen Roman aus dem Hype erwacht und schleppt sich durch die Katerstimmung der Hauptstadt