Wellen im Netz

Es verhält sich mit der virtuellen wie mit der realen Welt. Irgendwie muss sie entstanden sein. Während beim All jedoch die Theorien im Widerstreit sind, macht sich der gemeine Netznutzer über den Cyberspace kaum Gedanken. Dabei sind hier die Schöpfer viel greifbarer. Ein Treffen in Wien

von MONIKA ERMERT

Im Cyberspace leben keine Menschen. Im Cyberspace leben Geeks. Sie sind Nutzer und Schöpfer der virtuellen Welt zugleich. Und, anders als Gott, erarbeiten sie ihre Kreation im Team. Die Computerbesessenen sind bestens vernetzt. Sie treffen sich ständig virtuell und manchmal auch nichtdigital. So wie in der vergangenen Woche in Wien.

Sechs Tage lang diskutierten die ausschlaggebenden Geeks, die Entwickler der Standards von morgen, bei der Internet Engineering Task Force (IETF) in internationaler Besetzung. Deutlich wurde dabei vor allem eines: Eine Reformwelle kommt auf die Organisation zu. Veränderungen sind nötig.

Wer jetzt an Flash-Intros oder andere bunte Spielereien denkt, liegt völlig falsch. Bei der IETF geht es ums Gerüst. Es geht darum, gemeinsame Wege zu finden, damit sich die Computer in Goa auch mit denen in Castrop Rauxel verständigen können. Die Organisation gilt als die wichtigste ihrer Art.

Das Treffen der IETF ist beherrscht vom Netz. Selbst in den Pausen: Die Cracks versammeln sich hinter einem überdimensionalen Laptop und spielen sich die verrücktesten Videos vor, die ihnen das Programmierleben versüßen. Ein Bierwerbespot aus Schweden, eine Kondomwerbung aus Kanada, und, um die Stabilität des Funknetzes im Saal zu testen und mit dem mächtigen Bildschirm anzugeben, eine Vorführung von „Matrix Reloaded“.

Dann verschwinden wieder alle in den Arbeitsgruppen, wo in einem für gemeine Netznutzer unverständlichen Computerenglisch debattiert wird: darüber, wie Telefonnummern als Internet-Domains eingetragen werden können, welche Möglichkeiten man bei der Telefonie über Internet vorsehen muss oder welche Schwierigkeiten bei Tunneln mit der neuesten Version des Internet Protokoll IP Version 6 (IPv6) durch die bestehende IPv4-Netzwelt entstehen.

Das virtuelle All ist endlos, fertig wird man fast nie. Am Ende des Arbeitsgruppentreffens darf deswegen die Aufforderung nicht fehlen: „Wir treffen uns im Netz, bitte meldet euch zu Wort auf der Mailingliste.“ Doch bleibt es weder bei virtuellen Treffen noch hier in Wien rein technisch. Gerne und oft verfallen die Geeks auch in regelrecht „religiöse“ Auseinandersetzungen, wie sie selbst es nennen. Sie meinen damit grundsätzliche Fragen dazu, was in der Welt der Codes gut oder böse ist.

„Das Internet ist nicht wertfrei und auch nicht die IETF“, heißt es in einem aktuellen Request for Comment (RFC). Schon dieser Name selbst zeigt, wie reflektiert die Geeks ihre eigene Organisation sehen. RFC ist übersetzbar als Vorschlag, der um Kommentare bittet. Die RFCs sind Entwürfe, Regeln und Gesetze, die sich die Organisation selbst gibt. „Wir wollen, dass das Internet nützlich für Gesellschaften ist, die unsere Vorstellung von Offenheit und Fairness teilen. Wir stehen zu technischen Konzepten wie dezentralisierte Kontrolle, Empowerment für die Nutzer und das Teilen von Ressourcen, denn diese Konzepte sind die zentralen Werte der IETF Community.“ Die Gemeinschaft hat sogar ein „Tao“, nachzulesen auf der Webseite, das hinunter reicht bis zur Kleiderordnung – keine Anzüge und, um Gottes willen, keine Krawatte. Man hat eine Mission: „Die IETF Community will, dass das Internet erfolgreich ist, weil wir glauben, dass die Existenz des Internets und sein Einfluss auf Wirtschaft, Kommunikation und Erziehung uns helfen wird, eine bessere Gesellschaft zu schaffen.“

Ein starkes Bekenntnis für einen Verein, der keiner sein will und der von sich sagt, dass er, streng genommen, nicht existiert. „Juristisch gesehen gibt es uns nicht“, erläutert Scott Bradner, weißhaarig und langbärtig – und damit ganz typisch für die IETF-Altvorderen, den Neulingen beim traditionellen Einführungskurs. „Einige andere Standardorganisationen verlangen Einstimmigkeit, wir nicht, bei uns darf man anderer Meinung sein“, sagt Bradner und zitiert das fast schon biblische Motto der Organisation: „We reject kings, presidents and voting. We believe in rough consensus and running code.“

Legendär ist die Art, wie bei den Face- to-Face-Treffen zwischendurch ein Stimmungsbild erstellt wird, ob ein Dokument gut ist oder durchfällt: „Darf ich um einen hum bitten?“, heißt es, und dann summt es im Raum, und Chef und Vizechef der Arbeitsgruppe versuchen daraus Begeisterung oder Missfallen für einen Vorschlag abzulesen.

Statt autoritärer Entscheidung soll die allgemeine Akzeptanz einem bestimmten Standard zur Verbreitung verhelfen, und damit sich die IETF- Standards behaupten, will man die besten aller denkbaren Spezifikationen produzieren. „Internet-Standards R us“, sagt Bradner, und wirklich dominieren die IETF-Standards ganz wesentlich die Basisarchitektur des Netzes. Die Macht des Arbeitgebers gilt hier nicht. „Du kannst durch die Kraft deines Arguments überzeugen. Wer deinen Gehaltscheck unterschreibt, ist dabei irrelevant“, sagt Bradner.

Als Teilnehmer gilt, wer sich an den Diskussionen in den Mailinglisten beteiligt. Alle Dokumente sind frei verfügbar – anders als etwa in der für die klassische Telefonwelt zuständigen International Telecommunications Union, wo erst teure Mitgliedsbeiträge den Zugang zu den Informationen über die Standardentwicklungen ermöglichen. Einzige Kosten bei der IETF außer persönlichem Engagement und Arbeitszeit sind die vergleichsweise bescheidenen Teilnahmegebühren – die Kosten für Kekse und Sekretariat.

Ihr Erfolg hat der IETF in den vergangenen zehn Jahren ein enormes Wachstum beschert, doch jetzt droht sie sich an ihrem eigenen Erfolg zu verschlucken. Die Größe ist das eine: statt hundert Teilnehmer sind es in Wien mehr als tausend. Die Zahl der Arbeitsgruppen ist auf 130 angestiegen, und viele sind so voll gepackt, dass statt aus der Fachdiskussion im kleinen Kreis eine Abfolge von Präsentationen geworden ist. Der kann nur folgen, wer die von den Entwicklern eingereichten Dokumente gelesen hat: Was eignet sich besser für ein neues Cross-Registry Protokoll, LDAP oder XML? Selbst für die Experten ist das nicht so leicht zu entscheiden, aber von der Entscheidung hängt ab, wie künftig tausende von Internet-Registraturen Bestandsdaten zu den vergebenen Domains und IP- Adressen vorhalten und publizieren.

Die Qualität der Arbeit in den Arbeitsgruppen lässt zu wünschen übrig, wirft nun die ältere Generation dem Nachwuchs vor. Der aber beklagt sich seinerseits darüber, dass die so genannten Bereichsdirektoren Entwicklungen aus Zeitmangel oder aus ideologischen Gründen oft monatelang blockieren. Bei aller Offenheit und der Möglichkeit, seine Idee einzubringen, demokratisch ist die IETF nicht. Eher schon kann man es eine Meritokratie nennen, in der die Peers den Weg weisen. So sind es die Bereichsdirektoren in der Internet Engineering Steering Group (IESG), die das letzte Wort über die von den Arbeitsgruppen vorgelegten Standarddokumente sprechen.

Zum ersten großen Streit über die Hierarchie kam es vor zehn Jahren, als man sich über die Einführung eines neuen Internetprotokolls einigen musste, weil die IP-Adressen knapp zu werden drohten. „Viele der Fragen von damals sind bis heute nicht beantwortet“, sagt Jeanette Hofmann, Sozialwissenschaftlerin und IETF-Beobachterin, „vor allem die der Verteilung beziehungsweise Konzentration von Macht.“

Seit einem Jahr belagert der derzeitige Vorsitzende der IETF, der Norweger Harald Alvestrand, sein Plenum mit dieser Forderungen. „Die IETF funktioniert. Einige unserer Ergebnisse sind relevant, einige unserer Ergebnisse sind exzellent und einige unserer Standards so gut, dass sie genutzt werden, um diesen Planeten mit dem Ding zusammenzuschweißen, das wir das Internet nennen“, sagte Alvestrand in Wien vor dem Plenum. Doch dann holt er zur Fundamentalkritik aus: Das Management muss verändert werden.

Sechzig Prozent der Teilnehmer gaben Alvestrand Recht, dass die IETF in den nächsten Jahren nicht weitermachen kann wie bisher. Auch der Standardprozess selbst sei reformbedürftig. „Wir befinden uns an einem äußerst kritischen Punkt, weil das, was man sagt, und das, was man tut, nicht das Gleiche ist“, erklärt Elwyn B. Davies von Nortel Networks, der alle Klagen der Teilnehmer in einem harten Selbstkritikdokument zusammengefasst hat. Statt einen endgültigen Standard abzuwarten, führen beispielsweise viele ungeduldige Unternehmen aufgrund des krisengeschüttelten Marktes bereits Techniken ein, die noch im Entwurfsstadium sind.

Auch die auffallend häufigen Kulturkonflikte wie den zwischen US- und Nicht-US-Teilnehmern soll die Reform behandeln. Die eher als zurückhaltend geltende Art der Asiaten traf oft schmerzlich auf die als rüd empfundene „Cowboy“-Manier aus Übersee. Ein Dauerbrenner ist auch der Streit zwischen Netheads und Bellheads, also die selbst organisierte und staatsferne Netzwelt und die aus Staatsmonopolen und strikten Regulierungsregimen herauswachsenden Telekommunikationsunternehmen. „Manche sehen das Internet als Bedrohung in wirtschaftlicher und auch sozialer Hinsicht“, sagt Bradner.

Während einige versuchen, Internet- Technik auszusperren, wie kürzlich Panama Voice-over-IP blockte, strömen andere in die IETF und bringen ihre Vorstellungen von Standards und Standardisierungsprozessen mit. Schließlich weiß heute auch manche Regierung, was die IETF ist, und hat Wünsche an die Organisation. Wie zum Beispiel steht es mit dem Datenschutz bei Location Based Services und wie lassen sich die IP-Datenströme besser überwachen? Codes sind die Gesetze des Cyberspace, schrieb der US-Internetjurist Lawrence Lessig. Wie die Gesetze des Cyberspace in Zukunft gemacht werden, das wird maßgeblich durch die neue Form der IETF bestimmt.

MONIKA ERMERT, Jahrgang 1964, verfolgt als freie Journalistin von Tübingen aus die Wirren der Internetselbstregulierung