Der Kuss zweier Männer

Mit „Marathon Man“ und „Asphalt Cowboy“ schrieb John Schlesinger Filmgeschichte: spannend und unmittelbar

Um Nichtcineasten in Erinnerung zu rufen, wer John Schlesinger war, fängt man am besten mit dem „Marathon Man“ (1976) an. Die Zahnbehandlung, die Dustin Hoffman hier durch Laurence Olivier in der Rolle eines alten Nazi-Zahnarzts erfährt, ist berüchtigt. Seinerzeit sollen Zuschauer in Massen das Kino verlassen haben. Obwohl nur wenig auf den visuellen Schock hin inszeniert, hat diese Folterszene eine derartige Suggestionskraft, dass viele sie zu kennen meinen, ohne sie gesehen zu haben.

Dabei ist der ganze Film durchtränkt von jener beklemmenden Atmosphäre aus Paranoia und Verschwörungstheorie, die den besten Kinostoff der Siebziger bildete. New York ist hier die Brutstätte einer unterschwelligen, allgegenwärtigen Gewalt. Im Central Park fordern sich Jogger gegenseitig zu aggressiven Duellen heraus und ein versagender Motor, so die furiose Eröffnungssequenz von „Marathon Man“, ist der Auslöser für eine geschichtsträchtige Konfrontation: Ein Altnazi im Mercedes und ein Jude im Chevrolet liefern sich ein schließlich tödlich endendes Autorennen. Am „Marathon Man“ lässt sich eine bevorzugte Inszenierungstechnik Schlesingers studieren: Er schneidet vollkommen disparate Szenen und Handlungstränge aneinander. Im Resultat erlebt der Zuschauer eine Art urbaner Reizüberflutung. Obwohl Schlesinger immer wieder aufs Thriller-Genre zurückkam, ist ihm allerdings nie wieder die atmosphärische Dichte von „Marathon Man“ gelungen.

Wie überhaupt die Filmografie Schlesingers von einer merkwürdigen Inkonsistenz geprägt ist, in der sich auch das Schwanken des in London 1926 geborenen Regisseurs zwischen seiner Heimat und den USA abbildet. Sein erster amerikanischer Film „Midnight Cowboy“ (1969) wurde mit drei Oscars ausgezeichnet und einer „Nur für Erwachsene“-Bewertung wegen seiner verbalen Deutlichkeit. Jon Voight spielt den Provinzler, der nach New York kommt, um mit seiner natürlichen Potenzbegabung die ausgehungerte Damenwelt zu befriedigen. Der unverstellte – und im buchstäblichen Sinne schamlose – Blick, den Schlesinger hier auf die Geschlechterökonomie wirft, vermag noch heute zu überraschen.

Es ist genau dieser Sinn für die Beziehungen jenseits der männlichen wie weiblichen Stereotype, der bereits seine frühen Filme prägte, als man ihn den „angry young men“ der britischen Nachkriegskultur zurechnete. „A Kind of Loving“ (1962), besonders aber der verspielt-bittere „Billy Liar“ (1963) lassen sich eben nicht auf einen „Spülbeckenrealismus“ verkürzen, wie man heute dem „Free Cinema“ vorwirft. Vielmehr ging es Schlesinger, der als Dokumentarfilmer bei der BBC angefangen hatte, um eine Unmittelbarkeit der Darstellung, die schnell an Tabus rührte. War das im Falle von „A Kind of Loving“ noch ein Paar beim Kondomkauf, ist es zehn Jahre später, in „Sunday, Bloody Sunday“, der Kuss zweier Männer, zu dem er sein Aufnahmeteam – nicht die Schauspieler! – erst überreden musste. In der von Schlesinger selbst als semi-autobiografisch bezeichneten Dreiecksgeschichte wird Homosexualität einmal nicht als Versagen auf dem Gebiet der Heterosexualität abgehandelt. Von diesem Meisterwerk aus den frühen Siebzigern scheint es ein merkwürdig langer Weg bis zu Schlesingers letztem Film „The Next Best Thing“ (2000), der sich gegenüber der Selbstverständlichkeit von damals in diskursiver Anstregnung erschöpft: Ja, auch Schwule können/dürfenVäter sein.

John Schlesinger, der sich von den Folgen eines 2000 erlittenen Herzinfarkts nie ganz erholt hatte, starb letzten Donnerstag.

BARBARA SCHWEIZERHOF