Die gefühlte Rezession

Der Stadtkämmerer muss ein 500-Millionen-Loch zuschaufeln. Er wirkt ruhig

von HEIKE HAARHOFF

Soll doch alles den Bach runtergehen in diesem Land, die Wagners sind gewappnet. Eingekochtes in Regalen, Tiefgefrorenes in der Truhe, Wein in Kisten, und die Schnäppchen von Aldi und Tchibo, Besteckkästen, Polo-Shirts, Gartenschläuche fein säuberlich aufeinander gestapelt: der Keller der Wagners, etwa 120 Quadratmeter und damit genauso groß wie die Wohnfläche ihres Einfamilienhauses in einem Vorort von Düsseldorf, sieht aus wie ein gut sortiertes Warenlager. „Wir haben doch den Platz“, sagt Inge Wagner, „warum sollten wir da keine Vorsorge treffen?“

Wo doch nichts mehr sicher ist, sagt Inge Wagner, die Rente nicht, die Währung nicht, die Arbeit schon gar nicht. Da kauft man besser vorausschauend und günstig ein, solange man es sich noch leisten kann. Die Zeiten können sich schlagartig ändern. Zum Schlechteren, versteht sich.

Die Wagners leben zu zweit in ihrem Eigenheim. Sie sind Anfang 60. Ihre beiden Kinder sind vor mehr als einem Jahrzehnt ausgezogen, haben eigene Familien gegründet und das Glück einer festen Anstellung, wie Inge Wagner sagt. Auch die Wagners selbst haben eigentlich wenig Grund, sich zu fürchten. Inge Wagner ist Hausfrau und hat ein ansehnliches Erbe in die Ehe gebracht. Ihr Mann Heinz Wagner ist seit 30 Jahren Beamter, bis zum Regierungsrat in einem Ministerium hat er es gebracht, weitere Einzelheiten über seine Erwerbstätigkeit möchte er unter keinen Umständen in der Zeitung lesen, auch seinen wirklichen Namen gibt er vorsichtshalber nicht preis. „In Zeiten wie diesen weiß man ja nicht, wen es als nächsten trifft“, erklärt Inge Wagner. Weswegen sie täglich die Zeitungsbeilagen nach Preisknüllern durchforstet, egal, ob sie sie braucht oder nicht: Das Bedürfnis, sich abzusichern, ist stärker. Weswegen ihr Mann seinen langjährigen Wunsch vom vorzeitigen Ruhestand aufgegeben hat und nun doch bis 65 arbeiten wird. Er ist ein verantwortungsbewusster Mann. Er sagt: „Wenn meine Kinder und Enkel schon keine Rente mehr bekommen werden, dann möchte ich ihnen in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten wenigstens so viel Erbschaft hinterlassen wie möglich.“

In diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Erlebbar im Vorort von Düsseldorf wie in der Großstadt Hamburg, in der Hauptstadt Berlin oder im Magdeburg der Neuen Länder, im abgewickelten Duisburg wie im sonnenverwöhnten Freiburg. Erlebbar in Deutschland von West nach Nord nach Ost nach Süd, in Deutschland, dieser Wirtschaftsnation, die nach 1945 manche Krise durchlebt hatte, und in der dann, plötzlich und bis vor ein, zwei Jahren, alles möglich schien, Spitzengehälter für Jobeinsteiger in der IT-Branche, Firmengründungen fast ohne Eigenkapital, hohe Wachstumsraten am Neuen Markt, Aktiengewinne in Millionenhöhe.

Und nun, da der vermeintliche Boom eine ganze Nation scheinbar an der Nase herumgeführt hat, da Politiker wie führende Wirtschaftsinstitute das Pfui-Wort Rezession aussprechen, scheint ein neuer gesellschaftlicher Zustand erreicht: Es ist keine Schande mehr, öffentlich über die eigene Angst zu sprechen, die Sorge vor dem unaufhaltsamen Abschwung wird zum kollektiven Erlebnis. Erörtert im Fitnessstudio wie an der Uni, am Stammtisch wie in der Autowerkstatt, in Führungsetagen wie auf den Fluren des Arbeitsamts, beim Psychologen wie bei der Wahrsagerin.

Denn: Wenn sogar Menschen, die es wissen müssen, erfahrene Wirtschaftsredakteure beispielsweise, öffentlich eingestehen, dass selbst kritische Journalisten „Opfer einer Spekulationsblase“ geworden sind und jetzt an den Folgen zu knapsen haben, ist es dann nicht die Pflicht eines jeden, bei sich selbst bangend nach ersten Anzeichen der wirtschaftlichen Notlage zu forschen? „Ich gehe davon aus, dass die Talsohle noch längst nicht erreicht ist“, sagt Inge Wagner in ihrem Warenkeller. Sie klingt, als habe sie diesen Satz irgendwo aufgeschnappt. Manchmal ist die gefühlte Rezession schwerer zu ertragen als die tatsächliche.

Nicht, dass die Krise herbeigeredet wäre. Die Prognose, dass demnächst fünf Millionen Menschen in Deutschland ohne Arbeit sein könnten, ist glaubwürdig. Aber je öfter die Arbeitslosigkeit Menschen trifft, die im Kollegen- und Bekanntenkreis als unverwundbar galten, weil sie entweder hoch qualifiziert und erfahren oder aber auch einfach nur tüchtig und findig waren, desto größer ist die Bestürzung bei denen, die noch Arbeit haben. Desto enger klammern sie sich an ihren Job, desto mehr Raum nehmen Gedanken um die eigene Zukunft und deren Ungewissheit ein. Das alte bundesdeutsche Koordinatensystem funktioniert nicht mehr. Die Faustregel, „wer gut ist, kommt immer durch“, hat eine Reform nötig, vielleicht: „Wer gut ist, sollte es trotzdem probieren.“ Woran sich noch orientieren, an wem sich ein Beispiel nehmen?

Manfred Ungewitter bekommt noch heute, eineinhalb Jahre nach seinem Konkurs, regelmäßig Anrufe seiner ehemaligen Kunden aus dem Reisebüro, und manchmal fragt er sich, ob die Erkundigungen nach seinem Wohlbefinden ehrlicher Anteilnahme geschuldet sind oder nur einem unrühmlichen Bedürfnis: sich zu versichern, dass es einem eigentlich noch ganz gut geht – gemessen an der Tragödie, die ihm, dem erfolgreichen Reiseverkehrskaufmann, widerfahren ist.

Am 11. September 2001 besaß Manfred Ungewitter, heute 54 Jahre alt, ein florierendes Reisebüro, spezialisiert auf Flug- und Fernreisen, in bester Hamburger Geschäftslage nahe der Alster. Drei Monate später war er pleite. „Ich hatte nur noch Stornierungen.“ Der Vermieter verklagte ihn auf Mietfortzahlung, ein Angestellter auf Weiterbeschäftigung. Als sich der Terroranschlag von New York jährte, umringten Ärzte eines Hamburger Krankenhauses einen Monitor, der Pulsfrequenz, Herzstromkurve und Blutdruck ihres Patienten aufzeichnete: Manfred Ungewitter hatte einen Herzinfarkt überlebt.

Wer wirklich Grund zur Klage hat, das ist eine der Erkenntnisse dieser nichtrepräsentativen Reise durch die Rezessionsrepublik, der jammert wenig. Manfred Ungewitter sagt: „Sehen Sie mal, immerhin die Prozesse habe ich alle gewonnen.“ Er klingt fast nachsichtig. Er hat seine Gesundheit zurückgewonnen, er hat eine gemütliche Wohnung, er hat Freunde, er hat wieder einen Job gefunden. Wer kann das mit Mitte 50 schon von sich sagen? Bei einer Autoverleihfirma betreut er jetzt VIP-Kunden, als Angestellter, das Geschäft läuft ordentlich.

Und das Reisebüro? Da wehrt er ab. Neun Jahre hat es ihm gehört. Ach was, gehört. Es war oft sein erster Gedanke beim Aufwachen und sein letzter beim Einschlafen. Für das Reisebüro hatte er seinen ursprünglichen Traum – ein bescheidenes Auskommen als Auswanderer in Brasilien – nach über zehn Jahren in Südamerika Anfang der 90er aufgegeben. Er war nach Deutschland zurückgekehrt. Hier wollte er Menschen beraten, die die Welt kennen lernen wollten: „Das Reisebüro war mein Leben.“

Der Latte Macchiato für 3,50? Die Geringverdiener zucken nicht mit der Wimper

Ob es ein zweites geben wird, ist ungewiss. Es ist vielleicht noch nicht an der Zeit, über solche Pläne nachzudenken. Einerseits spürt er den Reiz wieder. Und er weiß doch, dass er es besser kann als andere. Dass er für Reisen und Menschen nun mal ein Händchen hat. Dass seine Kunden das spürten und ihm deswegen so lange die Treue hielten. Und andererseits ist da diese tief sitzende Angst: Was, wenn er sich täuscht? Wenn es erneut schief geht? Wird sein Körper dann ein zweites Mal die Kraft haben, den Schaden zu verschmerzen? In diesem Land? Und in dieser Gesellschaft?

Denn das ist das Tückische an der Krise: dass sie ausgerechnet in Deutschland stattfinden muss. In welchem anderen westeuropäischen Land hängt Identität so sehr von Status, Leistung und Beruf ab wie hier? Wo sonst sind materielle und persönliche Existenz so eng miteinander verzahnt? Wer noch würde vorausschauend Pessimismus verbreiten und sein Lebensgefühl von der Wirtschaft mitbestimmen lassen?

„Es ist beschämend“, ruft die Autohändlerin Dagmar Fenrich aus Magdeburg. „Wo sind wir geblieben?“, fragt sie laut und liefert die Antwort gleich selbst: „Im Innerdeutschen modern wir vor uns hin!“

Dagmar Fenrich schwört sich jeden Tag aufs Neue, die Angst vor der Pleite nicht Herrscherin über ihren Alltag werden zu lassen. Sie hat sich dazu Hilfe besorgt. Wenn sie morgens ihr Autohaus in einem Gewerbegebiet nahe der Magdeburger Stadtautobahn öffnet, dann wartet dort schon hinter dem Schaufenster cool an die Wand gelehnt eine lebensgroße blonde Gummipuppe auf sie, die Pumps leuchtend, der Bikini dunkelrot, die US-Flagge in der Hand lässig schwenkend. Daneben diverse Poster der „Route 66“, und natürlich mindestens drei verschiedene blank polierte Jeep-Modelle. Das macht ihr Mut, diese Freizügigkeit, diese Unabhängigkeit. „Der amerikanische Touch ist schon immer unser Ding gewesen“, sagt Dagmar Fenrich, „Amerika, das ist Individualität.“ In Amerika gebe es sicher genauso viele Kunden wie in Sachsen-Anhalt, die ihre Autos erst auf Pump kaufen und anschließend Mühe haben, die Raten abzustottern. Aber in Amerika verliert darüber keiner ein Wort.

In Sachsen-Anhalt ist das Stöhnen über die Schulden so laut, dass Dagmar Fenrich sich manchmal die Ohren zuhalten möchte, um nicht selbst vom Wehklagen der anderen mitgerissen zu werden. Denn natürlich haben auch die Fenrichs Sorgen. Schon zu DDR-Zeiten waren sie selbstständige Unternehmer, er Autosattler, sie Kfz-Mechanikerin. Das war auch nicht immer einfach, sagt sie, aber von dem beruflichen Erfolg hing nicht das Leben ab. Heute ist das anders. Heute haben die Fenrichs ihren kompletten Besitz verpfändet, alles für ihr Autohaus: „Wenn jetzt etwas passiert, dann sind wir zum Tode verurteilt.“

Vor zehn Jahren beantragten sie die Lizenz als Chrysler-Händler. Amerika! Der Traum war näher gerückt. Was aber, wenn nun alles schief geht? Werden die Banken ihr dann ihr Wohnhaus wegnehmen? Wahrscheinlich ist das im Moment nicht. Aber wie wahrscheinlich war denn, dass der Boom der New Economy über Nacht vorbei sein würde?

Dagmar Fenrich wird dieses Jahr 50. Neuwagenverkäuferin einer Marke zu sein, die nicht den Geschmack der Massen bedient, und das in einem Bundesland, das sich mit seinem Platz als Tabellenletzter in der bundesdeutschen Arbeitslosenliga abgefunden zu haben scheint, ist positiv gesehen eine Herausforderung und realistisch ein mieses Geschäft. Die Fenrichs zahlen Lohn an 20 Beschäftigte im Verkauf und in der Werkstatt. In diesem Jahr werden sie erstmals keine Lehrlinge ausbilden. Wofür auch? Die letzten mussten sie bis nach Bonn und nach Luxemburg schicken, damit sie nach der Ausbildung Arbeit fanden.

Seit 1989 hat Magdeburg bald ein Fünftel seiner Einwohner verloren. 227.000 Menschen leben heute noch in der Stadt. Dagmar Fenrich schüttelt sich die blond gefärbten Haare aus dem Gesicht. Vor ihrem Büro lehnt die Gummipuppe in provokanter Laisser-faire-Pose. „Es ist wie das Leben mit einer tödlichen Krankheit“, sagt Dagmar Fenrich. „Du weißt, dass du sie hast, aber du glaubst fest daran, dass sie bei dir nicht ausbricht, und wenn doch, dass du daran nicht stirbst.“

Endzeitstimmung in Deutschland. Viele Indizien deuten darauf hin: Da sind einerseits die Eiskugeln beim Italiener in Duisburg, die kleiner und trotzdem teurer werden, während die Zigaretten am Kiosk nebenan neuerdings auch einzeln zu haben sind. Und andererseits sind da die Hamburger Cabrio-Fahrer, die ihre Karossen bei diesem herrlichen Sommerwetter an der Alster ausführen und unterwegs auf einen Drink im Atlantic absteigen. Oder die bunten, fröhlichen, gut aussehenden Gering- und Nichtsverdiener im Berliner Prenzlauer Berg, die wochentags um 15 Uhr die Cafés bevölkern und nicht mit der Wimper zucken, wenn der Latte Macchiato 3,50 Euro kostet. Da ist der Augenarzt aus Freiburg, der berichtet, dass der Kontaktlinsen-Verkauf in seiner Praxis unverändert sehr gut läuft, obwohl die Kassen doch unter minus acht Dioptrin überhaupt keinen Zuschuss mehr gewähren. Da ist die 22-jährige Studentin Silja Becker aus Magdeburg, die soeben einen Vertrag im teuersten Fitnessstudio der Stadt abgeschlossen hat, nicht etwa, weil sie Geld hätte, im Gegenteil, „aber weil das Publikum hier gut drauf ist“. So als koste die Welt nichts. Oder als komme es so kurz vor dem angekündigten Untergang nun wirklich nicht mehr auf den ein oder anderen Euro an, im Gegenteil: Warum nicht noch ein bisschen genießen, die letzten Tage vor dem Knall? Da ist der 26-jährige arbeitslose Stukkateur Fabian Lück aus Magdeburg, der sich zum Ergotherapeuten hat umschulen lassen, immer noch auf der Straße ist, aber trotzig sagt: „Es ist wie mit dem Rauchen: Der Tod kommt zu langsam, als dass man davor Angst hätte.“ Da ist der Boutiquen-Inhaber vom Hamburger Jungfernstieg, der behauptet, seine Kundinnen kämen weiter aus Mallorca eingeflogen, um bei ihm ihre Abendkleider maßschneidern zu lassen. Wie passend dazu ziert Zugfahrpläne im Ruhrgebiet neuerdings die Reklame einer Mietwagenfirma: Drei Damen mit Sonnenbrillen und Strohhüten, denen das Wasser bis zum Hals steht, sind darauf abgebildet. Daneben der lakonische Ausruf: „Rezession, na und!“

Die Autohändlerin hat ihren Besitz verpfändet. Was, wenn alles schief geht?

Erstaunlicherweise ist diese Haltung in Zeiten der Krise ausgerechnet denen gemeinsam, die im normalen Leben nichts verbindet: diejenigen, die schon immer alles beziehungsweise noch nie irgendetwas besaßen. Zwischen diesen beiden Polen kauert der deutsche Mittelstand, ahnend, dass die Wirtschaftskrise vor allem ihn trifft. Denn bei den Besitzlosen ist ohnehin nichts zu holen, und die wahren Reichen waren schon immer gewitzt, ihr Vermögen zu retten. Bleibt die Mitte. Sie trifft ihre Vorsichtsmaßnahmen, meist lautlos.

Auf dem Balkon seiner Wohnung in einem backsteinroten Hamburger Mietshaus wiegt Jens Fischer, 37, seinen sechs Monate alten Sohn in den Schlaf. Nils war ein Wunschkind, so sehr, dass die Fischers sich fast in die Haare geraten wären bei der Entscheidung, wer von ihnen beiden denn nun Elternzeit beantragen darf. „Wir arbeiten beide kontinuierlich seit mehr als zehn Jahren“, sagt Jens Fischer, „wir finden beide, dass wir uns eine Auszeit verdient haben.“ Und er als Vater natürlich umso mehr, sagt er und grinst, allein schon aus politischen Gründen, was soll denn sein grüner Ortsverein sonst von ihm denken? Zumal er doch die idealen Voraussetzungen eines erziehungsurlaubenden Vaters erfüllt: unbefristeter Vertrag, ungekündigte Stellung, tarifvertraglich garantierte 38-Stunden-Woche. Jens Fischer arbeitet für einen großen Hamburger Verlag mit mehreren hundert Angestellten, und nichts wäre leichter, als eine zeitlich befristete Vertretung für ihn zu organisieren. Er müsste noch nicht mal darum kämpfen, es wäre sein Recht. Trotzdem hakt es: „Wenn ich ein Jahr Elternzeit nehme, bin ich draußen.“

Dieses Szenario ist nicht übertrieben. Vielen Kolleginnen und Kollegen, die in den vergangenen zwei Jahren Wert darauf legten, sich um ihre Kinder zu kümmern, wurde nach ihrer Rückkehr der Auflösungsvertrag „angeboten“, wie der Rausschmiss mit Abfindung im Arbeitsrechtsdeutsch beschönigend heißt. Nicht, weil das Unternehmen emanzipatorischen Bestrebungen abgeneigt gegenüberstünde, da ist sich Jens Fischer sicher. Es sei ausschließlich der Sparzwang, glaubt er, und: „Wenn man sich dagegen wehrt, dann steigt höchstens der Abfindebetrag, nicht aber die Karriereaussicht.“ Deshalb wollen sie auch nur mit geändertem Namen in der Zeitung stehen.

Vor ein paar Jahren noch hätte er möglicherweise auf die abschreckenden Erfahrungen seiner Kollegen gepfiffen, wäre das Risiko eingegangen, dass er nach der Elternzeit gehen muss, und hätte sich im Zweifel einen neuen Job gesucht. Umzüge, fremde Städte, neue Kollegen, nie hat er Veränderung gescheut. Aber diesmal ist es anders. Diesmal ahnt er, dass sein bestehendes Arbeitsverhältnis sein letztes sein könnte, zumindest sein letztes im klassischen Sinn. Damit war die Entscheidung bei den Fischers klar: Elternzeit wird ausschließlich seine Frau beantragen, die bei einem Sozialversicherungsträger beschäftigt ist, in dem bislang nach der Erziehungszeit keine Sanktionen drohten. Jens Fischer wiegt seinen Sohn. Er ist neidisch. Neidisch auf die Zeit, die ihm mit Nils entgeht und nie mehr nachzuholen sein wird. „Es ist absurd, es geht nur um ein Jahr, ein Jahr von einem insgesamt 30- oder 40-jährigen Arbeitsleben“, sagt Jens Fischer. „Aber ich muss jeden Cent mitnehmen, dieses Gefühl habe ich.“

Nicht nur er. Die Psychologin Sabine Siegl aus Duisburg ist seit knapp 20 Jahren im Beruf und spezialisiert auf Managementberatung und Coaching oberster Führungskräfte, auch nach Firmenfusionen. Sie hört immer wieder die gleichen Schilderungen: „Wenn die Hochkaräter in den Unternehmen abgebaut werden, schafft das Ängste bei den Verbleibenden.“ Ihre Rolle ist es dann, die Chancen der Noch-Beschäftigten auszuloten und den Geschassten zu vermitteln, dass sie sich nicht schämen müssen, wenn ihre bislang schnelle Karriere eine Pause einlegt oder gar den Rückwärtsgang.

Es ist 7.40 Uhr in der Lounge des Flughafens Berlin–Tegel, als sie das sagt. Gerade ist sie aus München angekommen, um 9 Uhr hat sie den nächsten Kundentermin. Sabine Siegl hat gut zu tun. Bevor sie die Lounge verlässt, sagt sie, dass die Deutschen lernen müssten, in kürzeren Zeitzyklen zu denken. Früher seien Drei- bis Fünfjahresverträge von vielen bereits als Zumutung empfunden worden, beispielsweise für einen Ortswechsel. „Heute ist das alles schnelllebiger.“

Wenn diese Erkenntnis mal nur nicht zu schnell in die Mentalität der Deutschen Einzug hält! Wo das Geschäft mit der Angst doch gerade so schöne satte Rendite abwirft, wenigstens für ihn, für Roland Schneider und seine Allianz also. Um drei Prozent, sagt der Diplomkaufmann, sei der Marktanteil der größten deutschen Versicherungsgesellschaft allein im vergangenen Jahr gewachsen; damit kontrolliert die Allianz etwa ein Fünftel des bundesdeutschen Marktes. Roland Schneider versucht ein Lächeln, das ihm eine Spur von Ernst und maßvolle Anteilnahme für alle Schicksalsgetroffenen ins Gesicht zaubern soll. Es will nicht gelingen. Sein Lächeln ist das eines glücklichen Erfolgsmenschen. Roland Schneider, 46, ist Experte für Lebensversicherungen und Leiter der Allianz-Geschäftsstelle in Potsdam, die 150 Vertretungen im Südwesten Berlins, in Potsdam und in Brandenburg betreut, und Lebensversicherungen, sagt er, genießen derzeit den höchsten Stellenwert, sie gelten als seriös, als zuverlässig. Werte, die man sonst doch vergeblich suche, sagt Schneider und lächelt noch entspannter: „In schlechteren Zeiten wird sich verstärkt ein Kopf gemacht.“

Der Regierungsrat hat im Keller ein gut sortiertes Vorratslager

Das ist seine Chance. Erst der Zusammenbruch der Aktienmärkte, nun das schwindende Vertrauen in Regierung und Staat – „da kann das Bedürfnis nach Privatvorsorge, nach Eigenverantwortung nur steigen“, weiß Schneider. Er und seine Kollegen machen immer häufiger Verträge mit gerade erst 20-Jährigen. Lebensversicherungen, Berufsunfähigkeitsrente, betriebliche Altersvorsorge. Das Grundgefühl, sich auf niemanden mehr verlassen zu können, kennt keine Generationengerechtigkeit. Roland Schneider mit seinem zuversichtlichen Blick wirkt da wie ein Exot. Angst um seinen Job? Er winkt ab. „Es gibt so viel Futter.“

Wenn er sich da mal so sicher sein kann. Mit jedem Tag, den die Rezession andauert, wird sie gewöhnlicher, wird ihr mit weniger Hysterie begegnet. Peter Langner, 50, der Stadtkämmerer von Duisburg ist und ein Haushaltsloch von 500 Millionen Euro zuschaufeln soll, hat den Gemütszustand der Gelassenheit schon vor Jahren erreicht. In aller Ruhe empfängt er Besuch in seinem Büro im Duisburger Rathaus. Nicht, dass es ihm egal wäre, dass er rechtswidrig handelt, wenn er inzwischen Sozialhilfe, Kindergärten, Aidsberatung und Kulturförderung auf Pump finanzieren muss. Gesetzlich ist das per Höchststrafe verboten. Eigentlich. Eine Gemeinde darf Kredite nur für investive, nicht jedoch für konsumptive Aufgaben aufnehmen, so wurde es Peter Langner in seiner Verwaltungslaufbahn eingebläut. Aber was bleibt ihm? Soll er die sozial Schwächsten vor die Hunde gehen lassen, nur weil ein Gesetz ein Gesetz ist? Seinen Mitarbeitern keinen Lohn mehr zahlen? Na also. Und so lebt Duisburg, die Pleitestadt, mit einem Haushalt, der von der zuständigen Bezirksregierung in Düsseldorf eben nicht mehr genehmigt wird. Seit einem Jahrzehnt schon häufen sich die Schulden, 1992 war das letzte Jahr mit einem ausgeglichenen Haushalt.

„Wir haben uns nie dem Fatalismus hingegeben“, sagt Peter Langner. Die derzeitige Dramatik sei das vorläufige Ende einer Entwicklung, die vor etwas mehr als einem Jahrzehnt mit einer großen Lebenslüge begonnen habe: dem Glauben, dass die deutsche Einheit zu finanzieren sei, ohne dass die Gemeinden im Westen unter den steigenden Abgaben und sinkenden Einnahmen aus Gewerbe-, Lohn- und Einkommensteuer auf Dauer kollabieren müssten. „Insofern ist die aktuelle Rezession für uns gar nicht so wahnsinnig aufregend.“

Jetzt liege es an der Bereitschaft zu bundesweiten Strukturreformen, sagt Peter Langner, ob diese Rezession in eine Dauerkrise führe oder doch nur vorübergehend bleibe. Wer soll einem diese Frage beantworten? Wer kann schon so genau in die Zukunft blicken?

Mona Stein kann. Sagt sie jedenfalls. Auf ihrem kleinen Wohnzimmertisch am Berliner Prenzlauer Berg flackern Kerzen neben bunten Steinen, die böse Energien abweisen sollen. Mona Stein trägt ein schwarzes Kreuz um den Hals, wallende, lange Haare, und von ihren vier Katzen spricht sie als „meinen Töchtern“. Mona Stein legt Karten. Hexe haben sie sie genannt, damals in der DDR, dabei hatte sie nur durchgesetzt, dass sie als erste offizielle Wahrsagerin anerkannt wurde. Und sie war gut. So gut, dass die Stasi im Frühsommer 1989 verzweifelt bei ihr anfragte, wie viele Menschen denn noch aus dem Land zu fliehen gedächten. Lange ist das her. Heute ist sie selbstständig. Mona Stein zeigt auf die Karo zehn. Die Karte ist besonders wichtig, sie steht für Vermögen und Geld. „Geld, das der Kanzler Schröder den Deutschen aus der Tasche zieht.“ Aber damit wird es bald ein Ende haben. Sie breitet wissend die Arme aus. „Im November wird Schröder einen großen Fehler machen.“ Sie konzentriert sich. „Danach geht es mit ihm bergab, und nächstes Jahr ist er hoffentlich weg.“ Sie lächelt das Lächeln einer Mächtigen. Sie könne übrigens unliebsame Personen „löschen“, falls das jemand wünsche, sagt sie wie beiläufig. Wer also bleibt dann übrig?, möchte man bange fragen. „Merz“, sagt Mona Stein spontan. „Friedrich Merz von der CDU.“