Ostfilm auf Tauchkurs

Defa, adieu: Ausgerechnet jetzt, mitten im Ostalgie-Boom von Kunst, Literatur und Film, muss das Kino Börse schließen. Die Umzugskartons des zugehörigen Progress Filmverleihs sind schon gepackt

von ANDREAS BECKER

Wieder muss ein Berliner Kino schließen. Unlängst traf es die altehrwürdige Kurbel in der Charlottenburger Giesebrechtstraße mit ihren über 500 Plätzen. Hier galt als Grund die Insolvenz der Ufa, die gerade knapp zuvor vom Konkurrenten Cinestar „gerettet“ worden war. Marktbereinigung wegen Overscreening heißt so etwas nüchtern bei Strategen. Denn dass Berlin durch die Multiplexisierung auch nach Schließung diverser Häuser zu viele Leinwände und Kinosessel besitzt, gilt als ausgemacht.

Inzwischen sind zwar selbst Vermieter bereit, den Kinos entgegenzukommen, damit ihre Gebäude mit leeren Läden nicht veröden. Doch investiert wird schon lange nicht mehr: Das bezeugen sowohl das Broadway als auch das Royal an der ehemaligen Kinomeile Ku’damm–Tauentzien. Wer am ehemaligen Astor vorbeikommt – einem der schönsten und ältesten Lichtspieltheater der Stadt – und den neuen Tommy Hilfiger Shop sieht, könnte heulen oder Steine schmeißen.

Leute mit extremen Mitte-Aversionen könnten sich bei der nächsten Schließung klammheimlich freuen. Denn jetzt ist ein Kino dran, das böse dräuend Börse heißt (nach der historischen Funktion des Gebäudes) und gleich um die Ecke vom verhassten Hackeschen Markt liegt. Die Krakenarme der Investoren haben nun endlich auch das angegammelte, mit ein paar Abschreibungsmilliönchen leicht aufzuhübschende Gebäude an der Burgstraße 27 entdeckt. Immerhin hat man aus den großen Fenstern eine unbezahlbare Sicht auf die Spree, Museumsinsel und rollende Eisenbahnen. Locationscouts, seid wachsam, hier lässt sich bald prima Berlinkulisse abdrehen. Das Haus gehörte lange der Treuhand, ging dann an die Defa-Stiftung, und diese hat es nun abgestoßen. Bis Ende August können die diversen kleineren Filmproduktionsfirmen in den Büros die Koffer packen.

Wer schon die ersten Umzugskartons bereithält, ist der Progress Filmverleih, der auch das Börse-Kino betreibt. Frau Pengel, für Öffentlichkeitsarbeit und Promotion zuständig, sitzt im ersten Stock über dem Kino und überprüft alte Programmhefte: Umzug oder Altpapier?

Zu extremer Sentimentalität neigt Ines Pengel nicht. „Ich wäre ja schon froh, wenn ich bei dieser Hitze die Heizung ausstellen könnte“. Die gute alte DDR-Methode, die Heizkörper von einer hohen Regierungsbehörde regulieren zu lassen (wie sie in der Volksbühne immer noch gern gepflegt wird) und die ganze Republik wie ein Treibhaus zu überheizen – deshalb auch der Hang zum Nacktbaden? –, wird hier noch gepflegt. Außerdem klagt Frau Pengel über den häufigen Absturz ihrer Computeranlage. Den Saxofonisten auf der Brücke gegenüber wird sie vermissen – und natürlich ihr Kino. Denn als Sachwalter des Defa-Erbes mit rund 850 Spielfilmen, mit gesamtdeutschen, teils teuer für die neue große BRD nachbezahlten Rechten für Hunderte von synchronisierten Filmen aus ehemaligen Ostblockländern wird der Progress Verleih damit sein direktes Schaufenster verlieren.

Wenn man gemein sein wollte, könnte man den Progress Filmverleih mit der PDS vergleichen, die das SED-Erbe angetreten hat und nun auf einem Schatz sitzt, der im Kapitalismus nicht mehr so richtig viel wert zu sein scheint. Da bleiben manchmal eben nur Immobilien ohne Inhalt. Aber wir sind nicht gemein: Die Börse war wichtig. Bis zur Wende wurden hier die Filme, nicht öffentlich, gesichtet. Anfang der Neunziger öffnete das Kino für alle: Jetzt konnte man sich in die dicken Sessel der letzten Reihe setzen, mit Tischen und Telefonen, und vorstellen, wie hier die brutalen Filmzensoren ihren guten Draht zu den bösen Erichs heiß laufen ließen.

Der DDR-Film hat wieder Konjunktur, sagt Frau Pengel. Letztens habe es wegen eines dieser Millionenquizze im TV unzählige Anfragen zu Frank Beyers Jurek-Becker-Verfilmung „Jakob der Lügner“ gegeben. Der Kandidat kannte den Filmtitel nicht und verlor so bei der letzten Frage. Nicht nur für Wessis und Ahnungslose, die „Alfons Zitterbacke“ (Defa 1966) nicht kennen, war die Börse das Kino. „Paul und Paula“ (Defa 1972), der in der Börse über Jahre lief, gern auch mit englischen Untertiteln, oder vielleicht noch Manne Krugs „Spur der Steine“ (da natürlich den Ausschnitt, wie er in den Teich springt), kennt fast jeder. Der Progress Verleih aber bemüht sich, ein breites Repertoire an Filmen bereitzuhalten. Die letzten Vorstellungen in der Börse gelten zum Beispiel Peter Kahanes „Ete und Ali“ (1985, mit Jörg Schüttauf) oder einem der Lieblingsfilme von Frau Pengel: „Das Zigeunerlager zieht in den Himmel“ (UdSSR 1976) nach einer Erzählung von Gorki. Auch aktuelle Filme verleiht Progress natürlich, so den Berlinale-Erfolg „Eislimonade für Hong Li“ und die Golzow-Filme der Junges.

Die älteren Herrschaften jedenfalls, die den kleinen Kinosaal besonders gern besuchten, werden ab September ins Blow Up gehen müssen. Dahin zieht man um, mit Büros. Nur gibt es hier kein eigenes Progress-Programm mehr, sondern nur einzelne Vorführungen. Das Ende einer Ära? Zu hoch gehängt, sagt Frau Pengel nüchtern. Kino jedenfalls wird es in der Burgstraße 27 nicht mehr geben.

Progress Studiokino Börse, noch bis Ende August Programm