Chronik eines angekündigten Toten

Entertainment und Verbrechen: Die US-amerikanische HipHop-Zeitschrift „F.E.D.S.“ will über alle Aspekte der Straße berichten. Mit Geschichten über verurteilte Gangmitglieder, Ghettokriminalität und ihre Opfer sucht sie die Wahrheit hinter den Images

Herausgeber Antoine Clark versteht sich als eine neutrale Instanz: „Ich bin die Schweiz“

von TOBIAS RAPP

Zwischen all den HipHop-Zeitschriften, die dutzendfach an jedem Zeitungskiosk in New York ausliegen, fällt das F.E.D.S. Magazine eigentlich kaum auf. Im Hochglanzdruck prangen die Namen der handelsüblichen Rapper auf dem Cover, zwei düstere Gesichter schauen einen an. Nur der Titel springt ins Auge: Feds, das sind eigentlich die Federal Agents, die Angestellten der Bundespolizei. Hier steht das Kürzel allerdings für: Finally Every Dimension of the Streets.

Endlich über wirklich alle Facetten der Straße zu berichten, ist das Anliegen von Antoine Clark, dem Begründer und Herausgeber von F.E.D.S., und dieses Ziel kann man wörtlich nehmen. Denn F.E.D.S. soll nicht mehr und nicht weniger sein als ein Time Magazine für das Ghetto. Und Größenwahn hin, Verwunderung her – seine Zeitschrift ist tatsächlich ziemlich einzigartig.

Die Titelgeschichte der letzten Ausgabe etwa handelt von der Shower Posse, einer Gang von jamaikanisch-US-amerikanischen Drogendealern und Killern, und wird über neun Seiten hinweg erzählt. Es ist eine finstere Geschichte von Tod und Verderben. In einem langen Interview erzählt Vivian Blake, der Anführer der Gang, der zehn Jahre lang auf der Most-Wanted-Liste des FBI stand, aus seinem Leben. Er gilt als verantwortlich für den Tod von rund 1.400 Menschen, allerdings konnte ihm kein einziger Mord nachgewiesen werden; schließlich wurde er wegen Drogenhandels zu 28 Jahren Gefängnis verurteilt. Auf einer Doppelseite werden drei Dutzend weitere Gangmitglieder vorgestellt. Die meisten von ihnen sind mittlerweile tot, die anderen sitzen im Gefängnis.

Daneben gibt es Interviews mit Rappern wie Nas oder 50 Cent, und wenn man weiter durch das Heft blättert, findet man mehrere Seiten, auf denen ein Anwalt erläutert, welche Gesetze geändert worden sind und was das etwa für Bewährungsverfahren bedeutet. Zwischendrin sieht man immer wieder Fotos von Rappern, die das Magazin in die Kamera halten, oder Bilder von Jugendlichen, die jüngst erschossen wurden („Rest In Peace Khalid ‚Bowwizzy‘ Cannon – September 22, 1986, to June 11, 2002“) – die Märtyrer der Straße. Man findet vier Seiten mit Fotografien von Frauen in Bikinis und eine Doppelseite mit Fotos von vermissten Kindern. Die Anzeigen werben für neue HipHop-Platten oder Kondome.

Antoine Clark, der Herausgeber des Hefts, ist Mitte dreißig; aufgewachsen ist er in der Bronx. In der elften Klasse brach er die Schule ab wie die meisten seiner Freunde, das war 1987. Damals fing er an, an Straßenecken herumzuhängen und miese Jobs zu übernehmen, etwa das Lagerhaus des Nobelkaufhauses Saks zu fegen. Er machte das bis zu jenem Abend, an dem er von einer Party nach Hause kam, auf einmal Schüsse krachen hörte, und ihn drei verirrte Kugeln im Rücken und in den Beinen trafen. Bis heute hinkt Antoine Clark deshalb und kann sein linkes Bein kaum spüren.

Zwei Jahre lang konnte Clark das Haus nur im Rollstuhl verlassen, und auf einem dieser Rollstuhltrips an die Straßenecke hatte er sein Aha-Erlebnis. „Meine Tante hatte mich rausgerollt und war weggegangen, und nach einer Weile waren auch meine Freunde weg. Dann fingen zwei Typen auf der Straße an, sich zu streiten, und auf einmal fühlte ich mich wie ein Opfer. Als auf mich geschossen wurde, habe ich mich nicht als Opfer gefühlt: So was passiert am laufenden Band, damit bin ich aufgewachsen. Aber an diesem Tag hatte ich das Gefühl, irgendetwas passiert und ich kann nicht weg, kann nichts machen“, berichtet Antoine Clark.

„Wenn ich diese Erfahrung nicht gehabt hätte, hätte ich wahrscheinlich einen wichtigen Aspekt von dem verpasst, wovon F.E.D.S. handelt. Vielleicht hätte ich das Verbrecherleben abgefeiert. Aber so – ich bin mit Freunden aufgewachsen, die Kriminelle sind, aber ich weiß auch, wie es ist, Opfer zu sein. Ich versuche beide Seiten zu sehen. Ich bin die Schweiz, verstehst du? Neutral.“

Damals beschloss Clark, eine Zeitschrift zu gründen: eben eine Art Time Magazine für das Ghetto, mit Themen, die wie beim großen Vorbild gleichzeitig von lokalem wie von globalem Interesse sind. „Und an erster Stelle stand dabei natürlich das Thema Verbrechen“, so Clark.

Fehlte nur noch das Geld. Um Aufmerksamkeit zu gewinnen, entschied sich Clark, so zu tun, als gäbe es das Magazin schon – und begann, seine Nachbarschaft mit kleinen Werbeaufklebern für die erste Ausgabe zuzukleistern. Nach einer Weile wurde eine HipHop-Gruppe auf ihn aufmerksam, die auf der Suche nach einem Manager war, die Money Boss Players. „Das, was ich damals gemacht habe, nennt man heute Street Promotion“, weiß Clark. „Ich habe da gar nicht groß drüber nachgedacht. Ich konnte mir einfach keine Plakate leisten. Für mich war das die Pennertaktik. Für die war das ein brillantes Konzept.“

Clark verschaffte der Gruppe einen Vertrag mit Quest Records, der Plattenfirma von Quincy Jones, der selbst nebenbei auch Herausgeber von Vibe ist, einer der größten HipHop-Zeitschriften in den USA. „Deswegen bin ich überhaupt nur zu Quest gegangen. Ich wollte zu Quincy Jones und sagen: Hier, du hast Vibe, dies ist F.E.D.S. Aber alle, die ich da traf, dachten, ich sei verrückt. Da kommt dieser Typ, hat einen Plattenvertrag, und alles, worüber er reden will, ist dieses Magazin?!“

Nach einer Weile gab Antoine Clark seinen Job als Manager der Money Boss Players auf. „Ich wusste nicht, dass man einer Gruppe immer einreden muss, dass sie auf jeden Fall eine Platinplatte machen werden. Ich dachte, wir könnten was aufbauen. Aber die wollten unbedingt von ihrer ersten Platte eine Million Exemplare verkaufen.“ Also nahm Clark die 7.000 Dollar, die er für die Anbahnung des Plattenvertrags bekommen hatte, und machte sich daran, das F.E.D.S. Magazine herauszubringen.

Bald merkte er zwar, dass man mit 7.000 Dollar nicht sonderlich weit kommt, doch eine kleine Druckerei in der Bronx rettete ihn. „Zuerst war das nicht gut für uns, denn sie war teurer als ein größerer Betrieb. Aber diese Druckerei druckte auch Flyer für Partys, und wann immer Leute kamen, um ihre Flyer abzuholen, waren sie begeistert von dem, was sie da sahen. Also merkten die in der Druckerei, dass dieses Magazin funktionieren könnte, und gewährten uns Kredit.“ Als das erste Heft an die Kioske ging, war es innerhalb von wenigen Tagen vergriffen, und Clark begann, eine neue Auflage nachzudrucken. Das war 1999.

Dreizehn Ausgaben sind seitdem erschienen, im vierteljährlichen Abstand. Fünf Leute arbeiten inzwischen fest für Clark, die verkaufte Auflage liegt bei mittlerweile 100.000 Stück – wobei Clark betont, jedes Heft gehe durch mindestens zehn Hände: vor allem im Gefängnis, wo ein Großteil der Abonnenten sitzt. Clark hat hunderte von Kriminellen interviewt – ausschließlich Verurteilte, das ist sein Grundsatz. Zu Anfang dauerte es ewig, bis er tatsächlich jemanden so weit bekam, über sein Verbrechen zu reden. Mittlerweile kommt es häufig vor, dass Leute ihn von sich aus anrufen. Clark überprüft alle Informationen sorgfältig, Fehler kann er sich nicht erlauben. Das würde nicht nur die Glaubwürdigkeit seines Magazins beschädigen – es könnte auch unangenehme Folgen für ihn selbst haben.

Es ist eine schwierige Balance, die Clark zu halten versucht. Auf der einen Seite versucht er, nicht den Kontakt zur Straße zu verlieren. Auf der anderen Seite darf er sich nicht in den Dienst von irgendjemandem stellen lassen. „Oh ja“, sagt er, „ich kriege all diese Ich-bin-unschuldig-Briefe. Aber ich bin nicht der Richter und nicht die Jury. Ich versuche, die Fakten darzulegen. Ich sage nicht, der ist gut oder der ist böse. Ich sage, der hat Crack verkauft, und dafür ist er ins Gefängnis gekommen. Jetzt sitzt er und heult, und ich erzähle seine Geschichte. Niemand sonst druckt so was, auch keine New York Times.“

Als das erste Heft 1999 in die Kioske kam, war es innerhalb weniger Tage vergriffen

Tatsächlich hat F.E.D.S. Magazine eine ganz eigene Position ergattert in jenem schwarzen CNN, wie Chuck D das Kommunikationssystem des HipHop in den frühen Neunzigern einmal nannte: ein Schlagwort, das in den letzten Jahren etwas an Konjunktur verloren hat, das aber immer noch zutrifft – heute vielleicht sogar noch mehr als damals. Denn an der Oberfläche mag es zwar so aussehen, als habe die Kommerzialisierung diese Musik in eine milliardenschwere Entertainment-Industrie verwandelt. Doch dieses Bild täuscht – ganz davon abgesehen, dass der reale Nachrichtensender CNN ja selbst Teil eines milliardenschweren Entertainment-Konzerns ist.

Denn HipHop ist nach wie vor ein Kommunikationssystem, mit dem von Straßenecke zu Straßenecke gefunkt wird, von Ghetto zu Ghetto, von der Straße ins Gefängnis. Dass im Laufe der letzten Jahre der amerikanische Süden eine eigene HipHop-Ästhetik entwickelt hat und mittlerweile auch aus Städten wie Detroit gesendet wird, hat dieses Netzwerk nur gestärkt. Ein Rapper wie 50 Cent wird zwar als Übergangster vermarktet, der bisher neun Schüsse überlebt hat. Ohne die zahllosen Mixtapes und Bootlegs aber, die er seit Jahren unterhalb des Wahrnehmungsradars einer breiteren Öffentlichkeit herausgebracht hat, würde ihm dieses Image nur wenig nützen.

Dieses Kommunikationssystem des HipHop, in dem sich von Stadtteil zu Stadtteil darüber verständigt wird, welcher Rapper gerade die Nase vorn hat, welche Schmuckfelgen man an seine Autos schrauben sollte und was sonst noch so passiert, ist lebendig wie eh und je. Dass die Plattenindustrie hier an ein gigantisches Vermarktungssystem angedockt hat und diese Images noch in den letzten Winkel der Erde verkauft, ändert für diejenigen, die an der Ecke stehen und davon träumen, die Straße werde sie in die Gegenden bringen, wo der Champagner fließt, erst einmal gar nichts. Außer dass der mögliche Reichtum, der für einige wenige Auserwählte am Ende jener Straße wartet, in immer unvorstellbarere Höhen schießt.

Politisch ist daran zunächst einmal gar nichts, was manche Kritiker enttäuschen dürfte. Doch dieses System kann durchaus politisch eingesetzt werden: Das demonstrierte in der vergangenen Woche etwa der HipHop-Mogul Russell Simmons, als er in den – wenn auch erfolglosen – Verhandlungen über die Reform der drakonischen Drogengesetze des Staates New York zum Chefemissär bestimmt wurde. Simmons wird auch auf dem nächsten F.E.D.S.-Titel erscheinen.

Es ist, als würden sich in Antoine Clark und seinem Magazin all die Stärken und Schwächen des großen HipHop-Zusammenhangs spiegeln: Der Größenwahn und der Idealismus, der Glaube an die heilende Kraft der Wahrheit und das Interesse für blutige Mordgeschichten, die Empathie mit den Opfern dieser Geschichten und die zynische Alles-schon-gesehen-Haltung desjenigen, der im Ghetto aufgewachsen ist. Die Zuversicht desjenigen, der es von ganz unten ziemlich weit geschafft hat, wie der Wille zum Crossover und der Unwille, es sich in einer kleinen Nische bequem zu machen. Das Leiden an den Kompromissen, die man dafür eingehen muss, genauso wie die Akzeptanz dieser Kompromisse.

Im großen HipHop-Spiel mit seinen Angebergeschichten und dem Aufschneidertum versucht Antoine Clark, der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen. Dass er dabei oft unfreiwillig den Verstärker gibt, ist ihm nur zu sehr bewusst. „Nimm 50 Cent. Wir haben mit unseren Geschichten die Latte für das, was als street gilt, so hoch gelegt, dass du nun schon Schüsse überlebt haben musst, um dem zu genügen“, gesteht er. Was also tun? „Wir haben auch eine 50-Cent-Geschichte in der aktuellen Ausgabe. Aber sie ist in der Mitte des Hefts. Auf dem Cover haben wir einen echten Kriminellen. Damit wollen wir sagen: Für Verbrechen kriegt man keinen Plattenvertrag. Man wandert ins Gefängnis. Entertainment ist Entertainent. Verbrechen ist Verbrechen.“