Im Geiste Mao Tse-tungs

Xiangqi, das alte Schachspiel der Chinesen, erfreut sich auch in Deutschland immer größerer Beliebtheit. Bei der „SG Aufbau Elbe“ träumt man von der Teilnahme an der WM 2004 in Paris

aus Magdeburg RENÉ GRALLA

Magdeburg liegt neuerdings nicht weit von Yangtse und Mekong. Wenigstens virtuell: Denn Sachsen-Anhalts Metropole entwickelt sich zu Deutschlands heimlicher Hauptstadt für einen Denksport, der das am weitesten verbreitete Brettspiel der Welt ist: Xiangqi, die Schachvariante der Chinesen und Vietnamesen.

Diese mentale Disziplin, mit der einst der Große Vorsitzende Mao Tse-tung und Ho Chi Minhs General Giap ihren strategischen Blick schulten, hat ein Mann nach Magdeburg geholt, der sich von Berufs wegen ohnehin mit Neuronen und sonstigen kleinen grauen Zellen beschäftigt. Claus Tempelmann ist Hirnforscher an der Uni, wenn er nicht gerade in den Fernen Osten reist. Dort, wo Xiangqi ein Volkssport ist, der in Suppenküchen und auf Märkten gespielt wird, hat der 44-Jährige seine Leidenschaft für das Asienschach entdeckt. Und mit nach Hause gebracht.

In der „SG Aufbau Elbe Magdeburg“ schart Claus Tempelmann mittlerweile einen kleinen Kreis von Enthusiasten um sich, die den illustren Vorbildern Mao und Giap nacheifern wollen – nur am Brett, versteht sich. In Magdeburg wurde auch die Deutsche Einzelmeisterschaft 2003 im Xiangqi entschieden, als Premiere für die neuen Bundesländer. Zwei Dutzend Kandidaten kämpften um die Paläste ihrer jeweiligen Gegner. Und das darf durchaus wörtlich verstanden werden. Xiangqi ist nämlich, im Gegensatz zur hierzulande üblichen orthodoxen Version, ein äußerst sinnliches Schach. Ein legendärer Militär namens Hán Xin soll das Spiel vor rund 2.200 Jahren erfunden haben, das berichten jedenfalls chinesische Historiker. Entsprechend entwickelt sich jede Xiangqi-Partie rasch wie eine Sandkastenübung für Stabsoffiziere. Da trotten Elefanten an und rollen schnelle Kampfwagen – um 840 nach Christus sind außerdem Kanonen hinzugekommen –, gleichzeitig sitzen die feindlichen Oberbefehlshaber in ihren Befehlsständen fest, nach dem Vorbild der chinesischen Kaiser, die einst die Verbotene Stadt in Peking nicht verlassen durften. Und außerdem ist als besondere Schikane, die zentrale Wasserscheide zu überwinden: der symbolische Grenzfluss zwischen den beiden Xiangqi-Armeen. Die heißen hier „Rot“ (anstelle von „Weiß“ im Standard-Schach) und „Schwarz“.

Klingt ziemlich farbig und spannend – und ist es auch. Selbst wenn der Laie vielleicht wenig erkennt, falls er zufällig einmal ein Match Xiangqi beobachtet, zum Beispiel im Dim-Sun-Imbiss gleich an der nächsten Straßenecke. Das Asienschach wird nämlich nicht mit Figuren gespielt, sondern traditionell mit flachen Steinen. Chinesische Schriftzeichen markieren die verschiedenen Kampfstärken, aber daran können sich auch Nicht-Sinologen gewöhnen – die erst rätselhaften Kürzel verwandeln sich alsbald in Pferde oder Mandarine, die ihre Könige schützen. So kombiniert eine halbe Milliarde Menschen nach dem Vorbild der Shaolin, jener Karate-Mönche, die auch schon während des Mittelalters Scharfsinn und Reaktionsschnelligkeit beim Xiangqi trainiert haben. Unschlagbar sind – damals wie heute – natürlich die Native Players aus China und Vietnam. Trotzdem genießt inzwischen auch die deutsche Xiangqi-Szene international einen guten Ruf: nicht zuletzt dank einer richtigen Bundesliga, die das Spielniveau der Xiangqi-Sportler hebt. Ein bis dato freilich noch recht elitärer Club, mit bundesweit nicht mehr als hundert Aktiven.

Seit Magdeburg 2003 steht nun fest, wer der cleverste Schach-Shaolin der Nation ist. Nach einem dramatischen Kopf-an-Kopf-Finish hat sich der Vorjahressieger Karsten Hoffahrt (28) aus dem niedersächsischen Ronnenburg wieder durchgesetzt, knapp vor Rekordmeister Dr. Michael Nägler (46) aus Lingen und dem Nürnberger Abiturienten Anatol Sargin. Knapp dahinter folgt Claus Tempelmann. Der Xiangqi-Pionier, 1999 immerhin schon einmal Vizemeister, lag bis zur letzten Runde noch gut im Rennen, verstolperte dann aber den Endspurt. Ein respektables Ergebnis für den Magdeburger, welcher kein Mann ist, der lange mit seinem Schicksal hadert: „Nach dem ersten kleinen Ärger schaue ich lieber nach vorn.“

Und da wartet auf ihn schon die nächste Herausforderung: die Weltmeisterschaft 2004. Eigentlich sollte die WM bereits in diesen Tagen in Paris starten. Was zugleich ein Novum in der Geschichte des Chinaschachs gewesen wäre: Bisher sind nämlich die Besten der Besten ausschließlich bei Titelkämpfen in Asien ermittelt worden. Doch dann ist Sars dazwischengekommen und hat den erstmaligen Ausflug des Xiangqi-Turnierzirkus nach Westen gestoppt. Wenigstens für dieses Jahr: Nun hat die World Xiangqi Federation (WXF) die WM auf August 2004 verschoben.

Austragungsort bleibt die französische Hauptstadt – und das ist wieder eine Riesenchance für Rechenkünstler wie Claus Tempelmann. In der kommenden Bundesligarunde 2003/2004, die zugleich auch eine Vorentscheidung über Plätze in der deutschen WM-Auswahl sein wird, kann der Magdeburger noch seine Startnummer verbessern. Zumal höherer Beistand garantiert ist, beim Saisonauftakt an einem Novemberwochenende in Hannover. Denn dann weht ein spezieller Spirit durch die Wettkampfarena – schließlich ist das eine buddhistische Pagode.