Summer of Hope

1973 veranstaltete die Regierung in Ostberlin ein Best of DDR für acht Millionen Besucher –zwischen Grußbotschaften von Komsomolzinnen und Anklagen an den Imperialismuswurde geknutscht, was das Zeug hielt

von ANJA MAIER

Tante Thea sagte: „Muss denn so was sein?“ So was, das war: zwei nackte Männerärsche auf dem Alexanderplatz. Dergleichen hatte Ostberlin bis zu diesem Augusttag 1973 nicht gesehen: Bei brüllender Hitze und ungehindert von den Einsatzkräften der Deutschen Volkspolizei waren zwei Jugendliche auf den Brunnen des überfüllten Alex geklettert und hatten der versammelten Klassenkämpferschaft den Nackten dargeboten. Das Ereignis war im Konsum-Laden diskutiert worden. Doch was zählt die Zeigefreudigkeit zweier Langhaariger, wenn es um nichts weniger als den Weltfrieden geht?

Vor dreißig Jahren, vom 28. Juli bis zum 5. August 1973, trafen sich 25.000 Jugendliche aus allen Kontinenten zum X. Festival der Jugend und Studenten, Weltfestspiele genannt, in Ostberlin. Zusammen mit den Gastgebern waren in Berlin acht Millionen Menschen auf den Beinen. Es sollte – mit vierjähriger Verspätung – das Woodstock des Ostens werden. „Unsere Hauptstadt wird die Sinfonie einer Großstadt bieten“, prophezeite im Jahr zuvor Günther Jahn, mit stolzen 43 Jahren noch Chef der Freien Deutschen Jugend FDJ. „Der Fernsehturm grüßt die Jugend aller Kontinente, die Fontäne am Alexanderplatz sprudelt fröhlich, das Brandenburger Tor zeigt den Imperialisten die Grenzen ihrer Macht. Berlin wird Kraft und Vormarsch atmen.“

Es war völlig unnötig, in diesem Ton, der jedem Wandzeitungsredakteur zur Ehre gereicht hätte, die Bürger der größten DDR der Welt zum Mitmachen zu bewegen. Denn die Weltfestspiele trafen den Nerv dieser Zeit, die realsozialistische Jugend war scharf auf die Party. Und diese Sommerwoche ist einer der wenigen funkelnden Steine im Schatzkästchen der kollektiven ostdeutschen Erinnerung. Denn 1973 überraschte die DDR, seit zwei Jahren von dem als Reformer gehandelten Erich Honecker gelenkt, mit bislang nicht gekannter Liberalität. Der Eindruck der Partypeople aus aller Herren Länder sollte positiv ausfallen. Die Straßen waren voll, die Parkwiesen belagert, die Klubs überfüllt. Es wurde Beat getanzt, gesungen und – das vor allem war neu – offen geredet, diskutiert gar.

Ich war zu dieser Zeit acht Jahre alt. Meine Familie lebte am grünen Stadtrand und in meinem Zimmer wohnten nun Carla und Kerstin, unsere 18-jährigen Festivalgäste. Sie trugen ihr FDJ-Hemd bis zum vierten Knopf geöffnet, dazu gelbe Stoff- und Wildleder-Miniröcke. Ich fand sie hinreißend. Ihre Rostocker Grundorganisation der FDJ hatte sie zu den Weltfestspielen delegiert, in unser Haus, in mein Zimmer. Dort hatte ich ihnen zu Ehren meine Zeichnung „Ich freue mich auf das Festival“ aufgehängt, mit der ich bei der Berliner Galerie der Freundschaft einen viel versprechenden vorderen Platz belegt hatte.

Carla und Kerstin waren aber selten da, um sich mein Bild anzuschauen. Denn die Jugend der Welt vereinigte sich auch auf privater Ebene. Das Wetter trug dazu bei, dass die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik zur Insel der Liebe wurde. Langhaarige sangen überall in der Stadt Selbstgereimtes zur Gitarre, und es wurde geknutscht, was das Zeug hielt. Dass sich die Zahl so genannter Festivalkinder in Grenzen hielt, lag vielleicht daran, dass 1972, ein Jahr zuvor, in der DDR die Pille eingeführt worden war.

Ausländische Delegierte wurden selbstredend nicht in Privathaushalten einquartiert. Für sie hielt Berlin Schlafplätze in Schulen, Zeltlagern, Turnhallen sowie Essensgutscheine in ausreichender Menge bereit. Detlef Michel etwa, damals 29 Jahre alt und über eine SEW-nahe Organisation nach Ostberlin angereist, wohnte in einem Schulgebäude. Er erinnert sich noch an die übervollen Verpflegungsbeutel, die den Teilnehmern morgens vom „Objektleiter“ ausgehändigt wurden. „Da war viel zu viel drin: Bananen, Schokolade, alles, was Mangelware war. Diesen Beweis des Überflusses empfand ich als Hochstapelei. Ich als Westberliner kannte ja die Versorgungsprobleme im Osten.“

Manche Entsendeländer gaben ihren Abgesandten im Gegenzug kleine Manuals an die Hand, in denen ihnen Benimm beigebracht wurde. So wurde empfohlen, sich nicht öffentlich über die Ähnlichkeit zwischen Naziuniformen und dem Gewand der Nationalen Volksarmee zu äußern, deren Angehörige selbstredend zu den bevorzugten Delegierten gehörten.

Am Nachmittag des 28. Juli 1973 wurde das Festival eröffnet. Die DDR-Führung ließ es sich nicht nehmen, Bewährtes anzuwenden und veranstaltete im Stadion der Weltjugend einen olympiareifen Aufmarsch der Teilnehmer. Auch Detlef Michel fand sich, nach einer Busfahrt ins Irgendwo, plötzlich als Mitglied der Westberliner Delegation im Stadionrund wieder. „Stunde um Stunde bewegt sich der farbenprächtige Zug der Jugend in das Stadion“, schildert ein zeitgenössischer Bericht, „Kommunisten neben Vertretern der nationalen Befreiungsbewegungen, Sozialisten und Sozialdemokraten, Delegierte der unterschiedlichsten Gewerkschaftsorganisationen, Radikale, Christen, Christdemokraten und Pazifisten – alle geeint durch die Losung der X. Weltfestspiele: Für antiimperialistische Solidarität, Frieden und Freundschaft!“

Diese Losung, die sich DDR-weit in jeder LPG-Kantine fand, erfuhr in diesen Tagen ungeahnte Sinnhaftigkeit. Die frühen Siebzigerjahre gelten als die „guten“ Jahre der DDR. Nach dem Abschluss des Grundlagenvertrages mit der Bundesrepublik am 21. Juni 1973 erfreute sich die „kommode Diktatur“, wie sie der Historiker Stefan Wolle nennt, der internationalen Anerkennung durch 88 Staaten. Ein weiteres Erstarken des Sozialismus – es war die Zeit der Befreiungsbewegungen – galt als Voraussetzung für den Friedensprozess, und damit möglicherweise die Beendigung des Kalten Krieges.

Dass die Welt in unser Land drängte, hatte auch ich ein halbes Jahr zuvor bemerkt. Denn dafür, dass der Imperialismus, der ja eigentlich nur die allerletzte „faulende“ Stufe vor der nächsten, gesetzmäßigen Entwicklungsstufe des Kommunismus war, wie im Staatsbürgerkunde-Unterricht der polytechnischen Oberschulen der DDR vermittelt wurde, nunmehr ein respektabler Partner war, bezahlte ich mit allem, was mir vertraut war. Um dem britischen Konsul eine angemessene Wohnstatt in Ostberlin zukommen zu lassen, mussten wir im Januar 1973 unser Haus – und ich meine Schule und meinen Spielplatz – verlassen. Egal, das Haus war eh nur gemietet. Und Konsuln sollten sich auch im Osten wohl fühlen. Wenn es nur dem Weltfrieden diente, den ich in meinem Kinderherz herbeisehnte und zu dem ich mit meinem Umzug einen Beitrag hatte leisten können.

Dass „die Vertreter der kapitalistischen Jugendverbände“ in der DDR Gelegenheit erhielten, „anhand der sozialistischen Praxis ihre theoretischen Vorstellungen zu überprüfen und zu bereichern“, wie es der Zentralrat der FDJ in Vorbereitung auf das Festival formulierte, sollte sich bewahrheiten. Michel, 1973 gerade promovierter Germanist und sozialisiert in den Kreisen des SDS, war angereist, weil er „die DDR auf der Seite der Schwachen“ sah. Bis zu diesen Sommertagen war diese Stadt für ihn „die Küchen in Prenzlauer Berg, in denen man gesessen und diskutiert hatte“. Die Annahme seiner offiziellen Gastgeber, eine Festivalteilnahme sei gleichzusetzen mit kritikloser Hinnahme der Verhältnisse, war irrig. Michel reiste noch vor dem offiziellen Festivalende ab.

Die Leute waren ja gekommen, um zu reden. Miteinander“, sagt Michel. „Unter den Linden waren dafür Podien aufgebaut. Aber dann traten immer nur Komsomolzinnen oder Vertreter der Befreiungsbewegungen ans Mikrofon und verlasen Grußbotschaften. Das war es wohl, was sich die FDJ unter Meinungsaustausch vorstellte. Zum Glück konnte man da einfach weggehen.“ Den Festivalgästen reichten die Straßen, Plätze und vor allem Liegewiesen. „Zwischen Alexanderplatz und Fernsehturm gab es tatsächlich eine Art Woodstock“, erzählt Michel. „Ich habe mit Kubanern gesprochen, die vom revolutionären Gedanken beseelt waren, mit sowjetischen Delegierten, die ungehalten wurden, wenn man sie auf Prag 68 ansprach, mit FDJlern, die Willy Brandt ihr politisches Vorbild nannten.“

Eine große Verbrüderung und Verschwisterung ging da – jenseits aller Festivalregie – über die Bühne. Kurz zuvor, im März 1973, hatten die Vietnamesen ihr Land von den USA zurückerobert. Die kleinen Frauen und Männer, die von dort angereist waren, galten als Popstars mit dem ewigen Lächeln im Gesicht und der imaginierten Kalaschnikow auf dem Rücken. Ein bizarrer Irrtum. Vietnamesische Vertragsarbeiter, die ich zehn Jahre später gesenkten Blickes in Ostberlin sah, deckten sich so gar nicht mit der Folie meiner Kindheit. Die DDR hatte es geschafft, die Menschen, die wir Kinder in den Siebzigern noch bewundert, für deren Kampf wir Taschengeld gespendet hatten, zu stigmatisieren, indem sie sie in Neubaublöcke verbannt hatte, an deren Eingang sich DDR-Bürger ausweisen mussten. Noch ein paar Jahre später sorgte der deutsch-deutsche Einigungsvertrag dafür, dass sie ohne viel Federlesen abgeschoben werden konnten.

Was taten Carla und Kerstin in dieser Woche? Schaut man sich den Veranstaltungskalender an, dürften sie kaum Zeit gehabt haben, sich internationalen Klassenkämpfern anzuverwandeln. 1.500 Veranstaltungen fanden statt: Konzerte, Konferenzen, Theater. Stolz rechnete der Zentralrat der FDJ vor: „Wollte ein Einzelner alle Kulturveranstaltungen besuchen, brauchte er dazu drei Monate und könnte anschließend noch etwa vierzig Tage und Nächte hintereinander tanzen.“

Spaß an der Statistik hatte man östlich der Elbe immer. Ob es auch Spaß brachte, sich jeden Tag mit einer anderen Völkergruppe zu solidarisieren, sei dahingestellt. Am 29. Juli etwa wurde sich im Berliner Lustgarten mit den „Völkern, der Jugend und den Studenten Vietnams, Laos und Kambodschas“ solidarisiert, nur einen Tag später mit den arabischen Ländern, am 31. Juli wurde die Solidarität mit den nationalen Befreiungsbewegungen bekundet. Alles in Massenkundgebungen. Und – wegen des heißen Wetters – sicher kein Vergnügen.

Eigentlich sollte am 1. August „Der Kampf für Frieden, internationale Sicherheit und Zusammenarbeit“ mit Hilfe der täglichen Manifestation beschleunigt werden. Aber dann starb Walter Ulbricht, Honeckers Vorgänger, der zwei Jahre zuvor unsanft zum Rücktritt gedrängt worden war. Er soll sich ausdrücklich gewünscht haben, dass die Weltfestspiele nicht unterbrochen werden. „Auf die Nachricht vom Ableben des Genossen Walter Ulbricht reagierten die Mitglieder und Funktionäre der FDJ richtig. Die Veranstaltungen wurden planmäßig fortgesetzt“, meldet der Tagesbericht des Zentralrats der FDJ an das Zentralkomitee der SED. Aus der Verlautbarungslyrik in die politische Prosa übersetzt, hieß das, dass das Festival nicht nur fortgesetzt, sondern die Beats-per-minute-Frequenz sogar noch erhöht wurde. So wurde etwa das Programm des für den Abend geplanten „Balls der Weltjugend“ erweitert, obwohl zuerst aus gegebenem Anlass auf das Tanzen verzichtet werden sollte. Der Tischtennis spielende Spitzbart Ulbricht verschwand achtzigjährig aus meinem Leben: unterlegt mit einem Beat-Soundtrack.

Auch am nächsten Tag wurde unverzagt weitergefeiert und -manifestiert. Diesmal gegen „Monopole, die Ausbeutung, Militarisierung, Faschismus und Unterdrückung“. Getoppt wurde die kämpferische Stimmung am 3. August. Eine der eher unappetitlichen Veranstaltungen war das Tribunal „Die Jugend und die Studenten der Welt klagen den Imperialismus an“. An der Konzipierung der Veranstaltung im alten Friedrichstadtpalast war Karl-Eduard von Schnitzler, Agitator von Erichs Gnaden, beteiligt. DDR-Jugendliche und Delegierte aus Afrika und Lateinamerika gruppierten sich unter einer gigantischen Friedenstaube und lasen vom Blatt ihre Empörung über die ja durchaus reale imperialistische Ausbeutungs- und Aggressionspolitik ab. Solche Auswüchse sind es auch, die diese Sommerwoche für ihre Kritiker so angreifbar machen. Das bildungsferne Herangehen der DDR-Führung an die drängenden Fragen dieser Zeit – die Themen Friedensarbeit, Antirassismus und Verteilungsgerechtigkeit kamen weltweit in die Diskussion – schlägt sich in derlei Veranstaltungen nieder.

Alle Mitglieder der DDR-Führung hatten durchweg eine antifaschistische Biografie. Doch ihr Ansatz, 17 Millionen Bürger mit sich selbst in ideologische Deckungsgleichheit bringen zu wollen, war nicht nur grundfalsch, sondern schadete der Sache an sich. Die Bürger des sozialistischen Staates auf deutschem Boden waren zu dieser Zeit ja noch bereit, sich mit solchen Fragen kritisch auseinander zu setzen. Aber der von oben angeschlagene Ton, die Rechthaberei und Darstellung sämtlicher Befreiungsbewegungen weltweit als dicke Freunde der DDR, war verheerend. Wohl auch wegen fehlender Klassenkampfcoolness sind dem kollektiven DDR-Gedächtnis des Jahres 73 die ewigen Manifestationen und der Fackelaufmarsch am Treptower Ehrenmal für die gefallenen Sowjetsoldaten des Zweiten Weltkrieges weniger präsent. Haften blieb der Happeningcharakter eines heißen Sommers.

Dessen Soundtrack wurde von den schon vor dreißig Jahren üblichen Verdächtigen – den Puhdys – eingespielt. Ihr Bombaststück „Vorn ist das Licht“, eine gelungene Mischung aus Agitprop und heulenden E-Gitarren, ging gut. Besser noch „Ketten werden knapper“ der Leipziger Klaus-Renft-Combo. Dieser Song hatte alles, woran es sonstigen fehlte: einen krachenden Beat, Mitsingpotenzial und einen guten Text: „Singt für alle, die alles wagen, für die Leute in jedem Land. Die gemeinsam den Erdenball tragen, dass kein Mensch mehr noch steht am Rand.“ Eine wunderbare Soundtapete für jedermann: den PLO-Führer Arafat, den Delegierten der Westberliner Jungen Union Klaus Landowsky, die vietnamesische Soldatin, die Kosmonautin Valentina Tereschkowa, Carla, Kerstin und mich. Nie wieder war die DDR so schön.

Sechzehn Jahre hatten wir noch. Die Weltfestspiele im Sommer 73 verkörperten, was dieses Land ausmachte: einen durchaus vorhandenen Willen, die Welt gerechter für alle zu gestalten – und eine unverzeihliche Rechthaberei, die jeden resignieren ließ, der in der DDR eine linke politische und kulturelle Heimat suchte. Zwei Jahre später, 1975, wurde Klaus Renfts Band verboten, der Musiker in die BRD abgeschoben, ein Jahr darauf Wolf Biermann. Die ideologischen Scheuklappen der DDR-Führung lagen enger an denn je. Drei Jahre zuvor hatte es einen kurzen Sommer der Hoffnung gegeben. Vergebens.

ANJA MAIER, 38, ist Redakteurin im Ressort Schwerpunkt der taz. Nach dem Festival fuhr sie zur Erholung ins Betriebsferienlager