Worte entscheiden

Die geplante Ausstellung zur RAF provoziert Appelle an Furcht und Mitleid. Dabei eignet sich das Jahr 2003 gut zu Historisierung und Entmystifizierung der RAF – beides ist nötig

Es ist nicht zu leugnen, dass sich die damalige radikale Linke auch selbst marginalisiert hätte

Es gibt weder ein Konzept noch einen endgültigen Termin, dafür eine umso heftigere Debatte über eine Ausstellung zur RAF, die das Berliner Ausstellungshaus Kunstwerke veranstalten will. Den künftigen Machern der Schau wird von konservativer Seite Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern des Terrors und Beschönigung der Motive der Täter vorgeworfen. Die Angegriffenen replizieren, dass es ihnen um Aufklärung gehe. Um „Historisierung“ der 70er-Jahre und um „Entmystifizierung“ der RAF. Hierüber zu debattieren ist auch dann sinnvoll, wenn das Projekt begraben werden sollte.

Was bedeutet „Historisierung“ und unter welchen Bedingungen kann sie erfolgreich sein? In den 80er-Jahren plädierte der Zeithistoriker Martin Broszat für eine Historisierung des Nationalsozialismus. Darunter verstand er die Notwendigkeit, die Alltagsgeschichte, die Lebenspraxis der Deutschen zwischen 1939 und 1945 einzubeziehen, sich frei zu machen von einer Sichtweise, die nur die im Massenmord an den europäischen Juden kulminierende politische Verbrechensgeschichte des NS-Regimes im Blick hat. Broszats Aufforderung blieb nicht ohne Widerspruch. So kritisierte der Historiker Saul Friedländer, dass Broszat die Bedeutung der „politischen Sphäre“ im Alltagsbewusstsein zur Zeit des Nationalsozialismus verkenne und letztlich zur Verharmlosung des nazistischen Gesellschaftssystems beitrage. In jüngster Zeit hat der Historiker Götz Aly wiederum zur Historisierung der Nazizeit aufgerufen. Er stellt klar, in welchem Umfang die große Mehrheit der Deutschen von der nationalsozialistischen Raub- und Ausbeutungspolitik profitierte und mit welcher Sorgfalt die NS-Sozialpolitik darauf achtete, die Bevölkerung bei der Stange zu halten. Aly spricht – in polemischer Zuspitzung – von einer „jederzeit mehrheitsfähigen Wohlfühldiktatur“, von „Hitlers Volksstaat“.

Wie umstritten diese beiden Versuche der „Historisierung“ auch sein mögen, fest steht, dass jeder solche Versuch auf Widerstand stoßen muss. Denn der Historiker ordnet ein und vergleicht. Selbst wenn er über felsenfeste moralische Überzeugungen verfügt, ist er in erster Linie nicht aufs Verurteilen, sondern aufs Verstehen geeicht. Seine Verständigungsmedien sind Diskussion und Kontroverse, nicht Anklage und Urteil. Er neigt notorisch zur Relativierung. Eine solche Haltung kann leicht zu Verletzungen und zur Kränkung jener Menschen führen, die eine historische Periode als Opfer erlebten und dazu neigen, ihr Schicksal als Opfer für unvergleichlich zu halten.

Eigentlich eignet sich das Jahr 2003 hervorragend für eine Historisierung der 70er-Jahre. Wir sind noch nah dran, aber durch eine tiefe Zäsur – die deutsche Vereinigung von 1990 – von den Ereignissen jener Zeit getrennt. Doch dieses Verhältnis von Distanz und Nähe ist weniger wichtig als die Krisenakkumulation der Jetztzeit. Sie erlaubt uns eine präzise Fragestellung: In welcher Weise sind die gegenwärtigen sozialen und politischen Krisenerscheinungen in der Geschichte der „alten“ Bundesrepublik angelegt? Bis jetzt beherrschte das intellektuelle Milieu auch der Zeitgeschichtsschreibung ein idyllisches Bild der früheren westdeutschen Verhältnisse. Eine Vorstellung, die sich vom Mythos demokratischer und sozialer Stabilität nährte. In ihr fungierten selbst oppositionelle Strömungen wie die der 68er- oder der ökologischen Bewegung als – zum Teil unbewusste – Beförderer der Zivilität. Speziell die Geschichte des Kampfs gegen die terroristischen Bewegungen der 70er-Jahre wird so verstanden, dass Rechtsstaat und Demokratie ihre Bewährungsprobe glänzend bestanden, sprich: der Terror nicht mit terroristischen Mitteln bekämpft wurde.

Gerade weil sich in unseren Tagen das Grundgefühl sozialer und politischer Sicherheit zersetzt, kann ein erneuter, nüchterner Blick auf die Sicherheitslage der 70er-Jahre geworfen werden. Hinsichtlich des Kampfs gegen den Terrorismus ist eine solche Haltung umso mehr angezeigt, als zwischen den damaligen Mitteln der Terrorbekämpfung und dem heute herrschenden Sicherheitsdiskurs offensichtliche Kontinuitäten auszumachen sind. Fast alle Gesetze, welche die Rechte der Verteidiger wie der Angeklagten in Terroristenprozessen einschränken, sind nach wie vor in Kraft. Und den nach dem 11. September erlassenen neuen Regelungen ist der Geist der 70er-Jahre auf die Stirn geschrieben.

„Entmystifizierung“ in Sachen RAF bedeutet zweierlei. Zum Ersten: die Mitglieder der RAF ihres Heldenstatus zu entkleiden. Was nur dann mit Aussicht auf Wahrhaftigkeit geschehen kann, wenn man die Mehrzahl ihrer Laster, also ihre Selbstüberhebung, ihre angemaßte Avantgarderolle, ihre Gleichgültigkeit gegenüber Würde und Leben des „Klassenfeindes“ auch im Milieu der radikalen Linken jener Zeit ausmacht, wenn man keinen Abgrund zwischen der radikalen „legalen“ und der terroristischen Linken konstruiert. Hier heißt Historisierung und Entmystifizierung aber auch, die damaligen gemeinsamen Motive des antiimperialistischen Kampfes zu bezeichnen, ihre Legitimität zu untersuchen, ihre Wirksamkeit darzustellen und den Spuren ihres Fortlebens nachzugehen.

Die zweite Aufgabe der Entmystifizierung ist es, die „innerstaatliche Feinderklärung“ der 70er-Jahre zu rekonstruieren, die Ausgrenzung, den tödlichen Hass darzustellen. Es wäre töricht zu leugnen, dass sich die damalige radikale Linke auch selbst marginalisiert hätte. Aber das von den damaligen politischen Eliten geschürte Jagdfieber symbolisiert in den Fotos mutmaßlicher RAF-Mitglieder auf den Fahdungsplakaten, die Sympathisantenhatz, die Massenkontrollen, die Verbote und Reglementierungen produzierten, ein dichtes gesellschaftliches Klima des Konformismus und der Anpassung. Während es seitens ehemals radikaler Linker nicht an Erklärungsversuchen für ihre damalige politische Haltung fehlt, existiert aufseiten der sozial-liberalen Verantwortlichen nur Apologie – und Schweigen. Dem wäre nachzuspüren.

Historisierung und Entmystifizierung sind demnach keine Anstrengungen, die unabhängig vom politischen Kontext der Gegenwart zu leisten wären. Die heutige Krise des Sichergeglaubten bahnt kritischen Fragestellungen zur Vergangenheit den Weg. Es geht im Kern um gesellschaftliche Selbstverständigungsprozesse.

Wie sind die heutigen sozialen und politischen Krisen in der „alten“ Bundes-republik angelegt?

Hier aber wäre zu bedenken, dass der Erinnerung der Generationen, die die 70er-Jahre erlebten, die Erinnerungslosigkeit der Nachgeborenen gegenübersteht. Weshalb Historisierung auch heißen müsste, die widerstreitenden Erfahrungen der Zeitgenossen öffentlich aufzunehmen und sie mit dem Blick der Jungen auf jene Zeit zu konfrontieren.

Eins ist sicher: Der Appell an die Emotionen, die Beschwörung von Furcht und Mitleid, die Präsentation fotografischer Ikonen, sei es von RAF-Mitgliedern, sei es der ihrer Opfer – sie wären das Ende jedes Versuchs der Entmystifizierung. Worte, nicht Bilder entscheiden. CHRISTIAN SEMLER