Hüften als Gelenk in der Demografie-Debatte

JU-Chef Mißfelder trifft mit seinem Vorschlag zwar nicht ins Schwarze, aber mitten in drei aktuelle Fragen: Sollen medizinische Leistungen für Alte begrenzt werden? Wen trifft die Schrumpfung der Sozialsysteme? Werden die Politiker der demografischen Herausforderung gerecht?

BERLIN taz ■ Einen „Generationenkrieg“ habe der JU-Chef mit seinem Hüftgelenk-Satz entfacht, meinen viele der seit Sonntag dazu befragten Politiker und Politikerinnen. Der Tenor ihrer Antworten: Der Bengel solle die Senioren nicht verunsichern. Aber über „Generationengerechtigkeit“ müsse man reden.

Muss man? Die empirische Sozialforschung zuckt die Schultern: Einen Generationenkonflikt in der Alltagssicht der Menschen sei nicht nachweisbar. Doch, man muss aber, fanden erst vor zwei Wochen etwa ein paar CDU-, FDP- und Grünen-Abgeordnete unter 40 Jahren. Sie forderten, die Renten nicht mehr steigen zu lassen. Außerdem müsse die gesamte Politik unter dem Generationen-Gesichtspunkt durchforstet werden nach der Fragestellung: „Welche Altersgruppe profitiert von diesem Gesetz, welche zahlt drauf?“.

Wenn es um Männer und Frauen geht, heißt dieses Durchforsten Gender-Mainstreaming – in Anlehnung daran dürfte man von „Generation-Mainstreaming“ sprechen. Vermutlich handelt es sich dabei um einen Trend: Immer mehr jungen Menschen fällt auf, dass sie in der Minderheit sind. Und sie haben den Verdacht, dass Politik grundsätzlich nicht gegen die Interessen der Rentner stattfindet, weil die erstens ein Drittel der Wählerschaft ausmachen und zweitens schnell hysterisch werden. Das reizt zu Provokationen.

Das Generationenthema ist heuer jedoch nicht nur beim politischen Nachwuchs ganz weit vorne in den Köpfen. Es findet auch beim gegenwärtigen Abbau des Wohlfahrtsstaats Anwendung: Kürzungen der Sozialsysteme werden damit gerechtfertigt, dass es gälte, ein neues Gleichgewicht zwischen den Belastungen für Ältere und den Belastungen für Jüngere zu finden. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) sagt das gerne so.

Weil jedoch ein bloßes Eindampfen von Gesundheit, Pflege und Rentenansprüchen vielen Sozialpolitikern dann doch nicht befriedigend erscheint, reden sie ausnahmsweise auch über die Zukunft jenseits der nächsten Bundestagswahl. Und die ist alt. Heute kommen auf 100 Erwerbsfähige 44 Über-60-Jährige. 2030 werden es 71 sein.

Das heißt: In dreißig Jahren werden mehr Rentner Rente brauchen, mehr Altersschwache Pflege und mehr 85-Jährige eine neue Hüfte. Das gilt auch dann, wenn Krankheit und Verfall in immer spätere Lebensjahre hinausgezögert werden können. 76 Prozent der Bevölkerung sollen sich lauter einer Forsa-Umfrage vom Mai dieser „demografischen Herausforderung“ bereits bewusst sein – und sie werfen der Politik vor, dringend notwendige Entscheidungen auf die lange Bank zu schieben.

Auf diese Weise kreuzt Mißfelders Äußerung drei aktuelle Fragen: erstens, ob eine Reform des Gesundheitssystems es zulässt, Leistungen für alte Menschen zu rationieren. Zweitens, ob die Schrumpfung der Sozialsysteme auf Kosten eher der Jungen oder eher der Alten geht – oder nicht schlichtweg auf Kosten der Armen. Und drittens, ob die Politik sich dem demografischen Wandel stellt und Zuwanderung ermöglicht – oder ob Privatisierung die einzige Lösung ist.

Für die Antworten wird die Gesellschaft noch ein bisschen brauchen. Für den Anfang empfiehlt sich Faktenstudium: Die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und orthopädische Chirurgie schätzt, dass jährlich rund 180.000 Hüftgelenke eingebaut werden, Behandlungskosten betrügen etwa 5.000 Euro pro Hüfte. Der Durchschnittspatient, sagt der Sekretär der Gesellschaft, Georg Holfelder, sei „um die 60 Jahre alt“. Und im Übrigen „kann eine derartig schwere Operation nur medizinisch begründet werden“. Entscheidend dürfe nicht das Alter sein, „sondern ob ein Patient danach schmerzfrei gehen kann“. Alles andere sei „natürlich inhuman“.

ULRIKE WINKELMANN

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