Ostseeklotz

„Von der ersten Stunde an muss der Mensch von der berauschenden Umgebung befangen werden.“ Mit diesen Worten leitete Robert Ley, Leiter der NS-Freizeitorganisation „Kraft-durch-Freude“ (KdF), 1936 die offizielle Planung für das erste – und letztlich einzige – von fünf geplanten gigantischen Seebädern ein. Der Standort: Prora auf der Ostseeinsel Rügen, heute ein Ortsteil von Binz. „Wir wollen das Bad mit allem ausstatten, was es überhaupt gibt, mit Theater, Kino, Kabarett, Musik, Tanzflächen“, so Ley. Albert Speer, privilegierter NS-Architekt, forderte mehrere deutsche Architekten zum Wettbewerb auf. Der Vorschlag des Kölners Clemens Klotz setzte sich durch. Er sah einen Gebäudekomplex von 4,5 Kilometern Länge vor, dem leichten Bogen des Strandverlaufs der Bucht angepasst.

Alle zehntausend Doppelzimmer des KdF-Seebads der Zwanzigtausend sollten Seeblick haben. In der Mitte der Anlage waren eine Festhalle für alle zwanzigtausend Besucher, ein Wellenbad und eine Kaianlage mit zwei Seebrücken für das Anlegen von Hochseeschiffen vorgesehen. Die kleinen Zimmer sollten eher karg ausgestattet sein; KdF wollte den Strandurlaub für jeden erschwinglich machen. Das Seebad sollte die Infrastruktur einer kompletten Stadt erhalten und im Kriegsfall als Lazarett dienen. 1938 fand das Richtfest für das erste der acht Bettenhäuser statt, mit Kriegsbeginn wurde der Bau jedoch gestoppt. Das KdF-Bad wurde in seiner ursprünglichen Planung nie fertig gestellt.

Im Mai 1945 kam die Sowjetarmee nach Rügen. Sie demontierte und sprengte Teile der Rohbauten. Aus dem geplanten Seebad wurde ein Ruinenkomplex, der „Koloss von Prora“. Mit Gründung der DDR begann die vorerst provisorische und später kontinuierliche militärische Nutzung. Prora wurde Sperrgebiet. 1956 war der Ausbau zur Kasernenanlage abgeschlossen. Panzer-, Artillerie- und Fallschirmspringereinheiten der NVA wurden einquartiert, später verlagerte sich der Schwerpunkt vom Kampftruppenstandort zum militärischen Schulungszentrum.

Nach dem Mauerfall trat die Bundeswehr die Nachfolge der NVA an. Bis Ende 1991 waren noch Wehrpflichtige in Prora stationiert. Seit 1992 ist der Gebäudekomplex wieder öffentlich zugänglich und steht unter Denkmalschutz. Besitzer ist die Bundesrepublik Deutschland, Verwalter das Bundesvermögensamt in Rostock. Von den acht Bettenhäusern sind nur noch fünf in nutzbarem Zustand. Alle Versuche, den riesigen Komplex im Ganzen zu vermarkten, scheiterten bisher. Im Süden findet man mittlerweile eine Museumsmeile, eine Kunstgalerie und eine Diskothek. Bis 1999 befand sich hier noch die größte Jugendherberge Europas.

Ein Interessenkonflikt beherrscht die Debatte. Eine 1,2 Millionen Mark teure Studie im Auftrag des Bundes von 1997 setzt auf den massiven Umbau der Anlage zu Ferienwohnungen und Hotels, was teilweise gegen die Interessen der Binzer Hoteliers steht. Das Museum Prora fordert eine gemeinnützige Gestaltung des Areals mit der Idee, eine internationale Jugendbegegnungsstätte zu schaffen. Vom 22. bis 24. August gibt es das Jugendevent „Prora 03“. Erwartet werden 15.000 Besucher.

Hinweise: „Gebaute Utopien der Macht. Das Beispiel Prora“ (Rainer Wilkens, erschienen in „Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 2000. Macht und Monument“, herausgegeben von Romana Schneider und Wilfried Wang ,Verlag Gerd Hatje, Frankfurt am Main 1998, 299 Seiten) sowie der Link: www.allinclusive.eu.tc. SEBASTIAN HEINZEL