Superquoten und weltberühmt

Live-Bericht von den Vorbereitungen zur Wahl des „größten Deutschen aller Zeiten“

Mainz, das ZDF-Gebäude auf dem Lerchenberg, August 2003. Im Zimmer 706 steht die Luft, die Köpfe rauchen. Am Konferenztisch hocken sieben leitende Redakteure und Mizzi Perlau, zuständig für Protokoll und Catering.

Die so genannte Listenkommission sucht „Unsere Besten“. Oder wie Unterhaltungschef Manfred Teubner präzisiert, „300 Persönlichkeiten aus allen Bereichen des Lebens etwa der letzten 1.000 Jahre“. Eine von ihnen sollen die Zuschauer am 28. November unter Anleitung des großen Deutschen Johann Baptist Kerner zum „größten Deutschen“ aller Zeiten wählen.

Die Herren, bis auf den Vorsitzenden Guido Knopp, haben Jacketts und Schlipse abgeworfen und riesige Schwitzflecken unter den Achseln. Alle starren auf Fräulein Perlau, zwischen deren sehr vollen Lippen eine Kaugummiblase erst prächtig schwillt, dann mit lautem „Plopp“ zerplatzt.

Guido Knopp: Ich muss doch bitten.

Frl. Perlau: Sorry.

Knopp: Also, wo waren wir?

Redakteur 1: Bei der Wirtschaftsliste.

Knopp: Wen haben wir bisher?

Redakteur 2: Alfred Krupp, Axel Springer, Joop, Beate Uhse und Heinz Schenk.

Knopp: Klingt irgendwie nicht ganz rund, müssen wir noch mal updaten. (Er hebt die Hand.) Könnte ich ein Cola bekommen.

Frl. Perlau: Sicher.

Knopp: Danke. Und die Literatur?

Redakteur 4: Goethe, Böll, Grass, Christa Wolf, Reich-Ranicki und Hitler.

Redakteur 3: Wieso denn Hitler?

Redakteur 4: Superquoten, Superauflagen, weltberühmt.

Redakteur 5: Und Reich-Ranicki? Der schreibt nur Kritiken.

Redakteur 2: Superauflagen und duzt sich mit dem Intendanten.

Knopp (ärgerlich): Dann hätte man ja auch meine Wenigkeit … (räuspert sich)

Na schön, Kollegen. Aber Hitler, dass dieser Name hier fallen muss, das ist unappetitlich, das ist empörend, das ist Verrrrrat. (Beim letzten Wort durchläuft Knopps Züge ein konvulsisches Zucken. Er springt auf und beginnt, die Arme fest vor der Brust verschränkt, um den Tisch zu tigern. Erst jetzt erkennt man einen quadratischen Tintenfleck unter seiner Nase.)

Öch habe gekämpft, und öch habe Opfer gebrracht. Man hat möch verlacht, doch öch habe dem deutschem Volk ein Werk geschenkt: „Hitlärrrrrrs Frauen“, „Hitlärrrrrs Generrrräle“, „Hitlärrrrrs Handlanger“, „Hitlärrrs Geld“ und „Hitlärrrs Stuhlgang“, erbarrrrmungslose Mährrrrteilär, die „Der 2. Weltkrieg“ hießen, und „Stalingrrrrat“, mit sensationellem neuem Farrrrbmaterrrial.

(Knopp bleibt am Kopfende des Tisches stehen und ballt die Fäuste. Seine Stimme überschlägt sich.) Und nun frrrage öch euch: Wollt ihrrr die totale Hitlärrrei? Wollt ihrrr den grrrrößten aller Verrrbrrröcher zum grrrößten Deutschen der Geschichte machen? Ich sage: nein, trrrotz Autobahn und Arrrrrbeitsdienst. Öch wörrrde unseren geliebten Führrrerrr, ähhh, diesen Lumpen und Volksverrrrhetzer noch tausend Jahre lang versend …, ähh, verrrnöchten, oder das ZDF wörd mit mör unterrrrrgehn.

(Er hält erschöpft inne, der Anfall ist vorbei. Die Redakteure schweigen betreten. Knopp sinkt in seinen Stuhl und winkt matt in Richtung Perlau.) Ausradieren den Mann.

Frl. Perlau: Überall?

Knopp (schreckt hoch): Was heißt hier überall?

Redakteur 4 (wühlt in seinen Papieren): Moment. Wir haben Hitler auch in den Rubriken Geschichte, Unterhaltung/Medien und Religion.

Knopp: Verdammte Schweinerei, ausgerechnet Religion, als ob uns die Betbrüder im Fernsehrat nicht schon genug Schere … Wer steht denn da sonst noch?

Redakteur 7: Drewermann und Ratzinger.

Knopp (fassungslos): Nein, nein, nein. So geht das alles nicht. Wir brauchen Genie, Größe, das historisch Elementare. Was ist mit Luther, Albertus Magnus, Calvin?

Redakteur 6: Calvin war Schweizer.

Redakteur 2: Dann müssen wir auch die Ösis Mozart und Haydn streichen.

Redakteur 3: Und Einstein, der hat er sich nach Amerika abgemeldet.

Redakteur 1: Ade, große Deutsche, bleiben ja fast nur taube Nüsse.

Redakteur 4 (wühlt wieder in Papieren): Beethoven, Dieter Bohlen, Claudia Schiffer, Uwe Seeler, Wilhelm II., Helmut Kohl. Oder eben der Führer.

Knopp röchelt wie ein waidwunder Eber, taumelt hilflos durch den Raum, greift sich ans Herz und fällt um. Frl. Perlau ruft die Sanitäter. Knopp wird abtransportiert.

Redakteur 2: Wir sollten vielleicht berücksichtigen, dass die Grenzen im Laufe der Jahrhunderte auch und gerade unter Mitwirkung großer Deutscher starken Schwankungen unterworfen waren. Zum Beispiel 1942 …

Redakteur 5: … dann könnten wir Hamsun und die Olsen-Bande nominieren.

Redakteur 6: Papst Wojtyla, Václav Havel, Sartre, Johann Cruiff – buchstäblich eine Besetzungsliste auf Weltniveau.

Redakteur 1 (seufzt resigniert): Danke, Adolf.

Frl. Perlau: Soll ich das jetzt mitschreiben?

Wie das ZDF gestern miteilte, wird die Aktion „Der größte Deutsche“ wegen „technischer Probleme“ bis auf weiteres ausgesetzt. MICHAEL QUASTHOFF