„Jetzt übernimmt das Denkmal“

Interview PHILIPP GESSLER
und JÖRN KABISCH

taz: Herr Eisenman, welche Frage über das Holocaust-Mahnmal wurde Ihnen bisher noch nie gestellt?

Peter Eisenman: Na ja, ich kann Ihnen nur erzählen, was dauernd gefragt wird: Was ist die Bedeutung des Stelenfeldes: Ist es ein Friedhof? Was ist jüdisch daran? Warum sind es Stelen? Warum Beton? Warum stehen die Stelen so dicht beieinander? Was haben Sie beabsichtigt? Warum von einem amerikanischen, jüdischen Architekten? Und so weiter, und so weiter.

Sind Sie genervt von den immer gleichen Fragen?

Nein, überhaupt nicht, sonst säße ich nicht bei Ihnen. Was mir am meisten an der deutschen Kultur gefällt: Es gibt eine Debatte um Architekturfragen, und Architektur ist ein bedeutendes kulturelles Phänomen, anders als in den USA. Es beschäftigt die Politikspitze wie etwa Wolfgang Thierse. Die Tatsache, dass die taz hier ist, zeigt, dass es ein wichtiges Thema ist. Das ist großartig. Es ist gut, wenn man merkt, dass das, was man tut, eine Resonanz erfährt.

Haben Sie schon einmal von Stelen geträumt?

Nein. Und diese Frage hat mir auch noch niemand gestellt. Aber ich hoffe, dass das Projekt die unterdrückten Gefühle, die es in der deutschen Psyche immer noch wegen des Holocausts gibt, aufbricht. Der Holocaust repräsentiert eine Leere in der deutschen Psyche, die die Kultur zu füllen versucht. Das Monument zwingt die Leute, sich zu fragen: „Warum?“ oder „Ich mag das Monument nicht – warum?“ Wenn es provoziert, soll es eine Debatte anstoßen über den Holocaust. Das wäre wichtig. Das ist die einzige Bedeutung des Mahnmals. Es geht nicht um Schande oder Schuld, sondern es stellt Fragen über das Heute.

Aber gab es bisher nicht schon genug Debatten über den Holocaust in Deutschland?

Es gab welche. Aber sie wurden überschattet von der Furcht, dabei zu sehr nach rechts oder links zu geraten. Das fordere ich nicht. Aber ich glaube nicht, dass bisher die ganze Debatte schon geführt wurde. Ohne Martin Walsers Rede in der Paulskirche und Bubis’ Vorwurf an ihn wegen antisemitischer Untertöne wäre das Mahnmal nicht gebaut worden. Es wäre tot. Die Walser-Rede provozierte gegen seinen Willen das Projekt. Das ist großartig. Anstatt nach antisemitischen und Pro-Nazi-Äußerungen der dritten Generation nach dem Holocaust zu suchen, sollten sie an die Öffentlichkeit gebracht werden. Aber ich bin da ein Außenseiter.

Konnte das Projekt erst starten, nachdem die Mauer gefallen war?

Ich glaube, damit hat es etwas zu tun. Dieses Land war noch nicht bereit für dieses Projekt im Jahr 1988. Aus welchen Gründen auch immer. Ein solches Projekt würde auch nie eine öffentliche Umfrage gewinnen. Helmut Kohl war sehr wichtig für das Mahnmal. Als er die Wahlen 1998 verlor, war das Projekt gefährdet.

Aber stand nicht im rot-grünen Koalitionsvertrag von 1998, dass man es bauen wolle?

Ja, und später hat Rot-Grün auch im Bundestag für das Mahnmal gestimmt. Aber als Kohl draußen war, war das Projekt tot. Erst Michael Naumann und Michael Blumenthal haben es wieder belebt.

Wenn in diesen Tagen die ersten Stelen aufgebaut werden: Werden die Ideen verwirklicht, die Sie einst hatten – oder wird es etwas anderes sein?

Der Unterschied zwischen einem Architekten und einem Künstler wie Richard Serra ist: Er stieg aus, da Kompromisse gemacht werden mussten. Bildhauer schaffen Statuen wie diese hier (deutet auf eine Aphrodite in einem Luxushotel am Brandenburger Tor). Keiner will sie kaufen – das ist ihm egal. Er hat sie gemacht, weil er sie machen wollte. Cezanne starb mit dem Pinsel in der Hand. Ich dagegen bin ein Architekt, und die brauchen immer einen Auftraggeber. Man arbeitet nie für sich allein. Wenn ich 85 Prozent dessen erreiche, was ich mir vorgestellt habe, war ich sehr erfolgreich. Ich glaube, beim Holocaust-Mahnmal habe ich mindestens 85 Prozent.

Sind Sie erleichtert über das nahe Ende des Projekts? Es hat immerhin 15 Jahre gedauert.

Alle architektonischen Projekte brauchen eine lange Zeit. Ich bin nicht erleichtert. Ich war auf der Universität Cambridge in den 60ern. Ich habe eine Doktorarbeit geschrieben, die völlig nutzlos für einen Architekten ist. Aber was ich gelernt habe: (auf Deutsch) „Sitzfleisch“ zu haben.

Wird das Mahnmal im Jahr 2020 ein normaler Sightseeing-Punkt sein wie das Brandenburger Tor und die Siegessäule? Und nichts Besonderes mehr.

Na ja, die Siegessäule und das Brandenburger Tor sind noch etwas Besonderes. Es sind Ikonen, die die Zeit überdauert haben.

Aber sie verstören nicht. Sie provozieren nicht so, wie Sie es von Ihrem Mahnmal erhoffen.

Architektur, die ihre Zeit überlebt, die problematisch bleibt, die nicht absorbiert wurde in das kollektive Bewusstsein – das ist große Architektur. Schinkels „Altes Museum“ war ein radikales Projekt in seiner Zeit: exotisch, problematisch, seltsam. Erfüllt es einen immer noch mit Schrecken? Ja! Es ist immer noch ein bedeutendes Gebäude für mich. Wird das Mahnmal in der Geschichte bestehen? Das kann ich nicht beantworten. Ich hoffe es. Wenn das Mahnmal nicht problematisch bleibt, wäre ich gescheitert.

Wir haben uns gewundert, dass Sie einerseits sagen, dass die Leute im Mahnmal auch picknicken können sollten …

Ja!

Sie auf der anderen Seite betonen, dass es verstören soll.

Es soll seltsam sein. Wenn Sie auf Caspar David Friedrichs Gemälde schauen: Sie sind seltsam, sublim. Es gibt darin pittoreske Qualitäten, aber auch verstörende Qualitäten. Das ist die Grenze zwischen Gut und Böse. Dieser schmale Grat. Ich wäre gern auf diesem Grat gelaufen mit dem Projekt. Ich weiß nicht, ob es mir gelingt. Es soll auf sublime Art zugleich verlockend und verstörend sein.

Was meinen Sie mit „verlockend“?

So verlockend wie die Sirenen, die Odysseus anlockten. Er besiegte sie, weil er cleverer und trickreicher war.

Wird das Mahnmal in 20 Jahren von einer neuen Generation noch verstanden werden?

Verstehen interessiert mich nicht. Mich interessiert: Wenn das Monument wie Odysseus zwar die Sirenenklänge hören kann, ohne ihnen zu verfallen, dann hat es wie Odysseus gewonnen, nicht die Sirenen. Wenn wir uns auf dieser Linie halten können, wird das Monument erfolgreich sein. Und die Leute werden es verstehen.

Auch der „Garten des Exils“ im Jüdischen Museum will verstören. Was ist der Unterschied zum Mahnmal?

Erst einmal die Größe. Dann die Zugänglichkeit. Es ist verlockend, von der Straße hineinzugehen. Das Mahnmal ist ein Sirenengesang. Das Jüdische Museum ist da anders.

Mögen Sie den Vergleich mit dem Jüdischen Museum?

Ich mag den Vergleich mit dem Friedhof nicht. Viele sagen, dass es ein Friedhof sei. Man muss warten, um zu sehen, wie es sein wird.

Es scheint eine ziemlich harte Konkurrenz zwischen Ihnen und Daniel Libeskind, dem Erbauer des Jüdischen Museums Berlin, zu geben. Er warf Ihnen sogar vor, ein Plagiator zu sein.

Das ist sein Problem. Er hat seine, ich habe meine. Ich kann Ihnen ein Buch zeigen, woher Libeskind seine Idee hernahm. Er hat es absolut übernommen.

Ist Ihr Verhältnis zu Libeskind noch gesunde Konkurrenz oder bereits eine Feindschaft? Sie konkurrierten auch bei der Bebauung von Ground Zero in New York gegeneinander.

Ich denke, Daniel ist ein großer Architekt. Das Jüdische Museum ist ein großartiges Gebäude. Es gibt da keine – ich war sein Lehrer in einem Kurs. Ich war ein Lehrer für sein Werk, nicht für ihn. Er war mein Student.

Er hat eine Menge gelernt.

Nein, überhaupt nichts. Das ist Quatsch. Ich bin daran interessiert, im Wettbewerb mit den Besten zu stehen. Wenn Sie in ein Rennen gehen wollen, wollen Sie nicht gegen Affen siegen. Ich mag es, mit Daniel im Wettbewerb zu stehen. Ich mochte es, mit ihm für den Ground Zero zu arbeiten. Ich mochte seinen Entwurf nicht, aber ich bin nicht der Preisrichter.

Was denken Sie heute über Gebäude, die Sie früher gemacht haben und nicht gerade Meisterwerke wurden?

Ich habe keine Gefühle gegenüber solchen Gebäuden.

Ist das gut – überhaupt nichts dabei zu fühlen?

Ich sag Ihnen mal was. Ich bin ein sehr aktiver Mensch und ein sehr aktiver Architekt. Ich lebe in der Gegenwart. Ich möchte über meine jetzige Arbeit nachdenken. Deswegen ist mein wichtigstes Werk immer das, was ich gerade baue. Deswegen sind meine wichtigsten Gedanken die, die ich heute aufschreibe. Und ich bin 71. Ich fühle mich fähiger, lebendiger, schneller als jemals in meinem Leben. Warum sollte es mir also auf die Vergangenheit ankommen.

Wird das Mahnmal einmal Ihr Meisterwerk sein?

Bisher habe ich noch nie darüber nachgedacht, was mein Meisterwerk sein wird.

Aber vielleicht haben Sie eine Ahnung.

Sicher, es ist eines meiner wichtigsten Arbeiten. Aber ich bin mir dennoch eines bewusst: Die Architekten, die Denkmäler gebaut haben, sind alle vergessen. Es gibt kein einziges, das als Meisterwerk irgendeines Architekten gilt. Wer ist der Architekt des Brandenburger Tors, wer hat den Arc de Triomphe gebaut, wer irgendein bedeutendes Denkmal? Wir wissen es nicht. Weil das Denkmal selbst das Steuer übernimmt. Deswegen glaube ich, dass Eisenman, lange nachdem das Stelenfeld steht, von den Gezeiten der Geschichte verschluckt werden wird.

Erklären Sie uns, warum Sie erst so spät zu bauen begonnen.

Ich fühlte mich einfach lange Zeit noch nicht bereit dafür.

Warum?

Vielleicht hatte ich Angst.

Angst. Vor was?

Vor dem Scheitern. Heute ist das nicht mehr so. Ich habe enormes Vertrauen in meine Fähigkeiten. Ein großer amerikanischer Denker hat einmal gesagt: „Facts are like sex.“ Wenn man Fakten nicht mit Werten auffüllt, dann kommen sie nicht hoch. Sie würden doch heute nicht mit mir reden, wenn ich nur ein Architekturtheoretiker wäre. Ich habe habe heute genug gebaut, um zu wissen, wie man baut. Ich bin (schnippst) schnell. Wenn Sie kommen und fragen: Was sollen wir tun?, sage ich: Tut das, und ich denke über diese Entscheidung nicht einmal nach.

Sie gelten als großer Fußball-Fan …

… stimmt! Ich bin ein Fan von Tennis Borussia Berlin.

Nehmen wir angesichts der ganzen Verwicklungen um das Mahnmal Fußball als Bild: Wie ist das Spiel ausgegangen? Haben Sie 1:2 verloren oder 3:0 gewonnen?

Peter Eisenman hat nicht gewonnen. Was ich getan habe, ist ein Feld für die Deutschen abzustecken, auf dem sie spielen können. Es wird zwei Mannschaften geben, das verspreche ich Ihnen. Wer am Ende gewinnt, ist mir egal. Weil ich noch nicht genug darüber weiß, wie dieses Spiel gespielt wird. Fragen Sie mich noch einmal in fünf Jahren. Mir ist erst mal nur wichtig, dass es ein Feld gibt.

Und wie lange sollen die Mannschaften darauf spielen?

Solange sie können.